In unserer Reihe »Fahnderprofile« machte der Krimiscout Bekanntschaft mit Krimiexpertin Kirsten Reimers und stellte ihr ein paar interessante Fragen. Und hier ist das Vernehmungsprotokoll.

  1. Steckbrief Kirsten Reimers

Lesen und Schreiben sind die zentralen Punkte, um die sich mein Leben seit Jahrzehnten dreht: als (Krimi-)Kritikerin, Übersetzerin, Lektorin, Literaturwissenschaftlerin, Ghostwriterin (Sachbuch). Seit bald 30 Jahren lese ich Krimis, seit dem Jahr 2000 schreibe ich Rezensionen, seit 2011 bin ich u. a. Mitglied der Jury des Deutschen Krimipreises und seit Oktober 2016 gebe ich den KrimiDetektor heraus, eine wöchentlich erscheinende internationale Presseschau für Kriminalliteratur. Auf meiner Seite Mord-und-Buch.de finden sich meine gesammelten Werke – eigentlich war die Seite mal als Blog angedacht, inzwischen ist sie mehr zum allgemeinen Archiv geworden.

  1. Wann kamen Sie das erste Mal mit Kriminal- bzw. Spannungsliteratur in Berührung?

Sobald ich lesen konnte, habe ich alles verschlungen, was mir zwischen die Finger kam, da war es nur eine Frage der Zeit, dass ich irgendwann auch auf Krimis stieß. Im Grundschulalter gab’s erste Versuche mit Kalle Blomquist und Jerry Cotton (eine einmalige Angelegenheit), später kamen dann „Die drei ???“ hinzu. Aber richtig gepackt hat mich der Krimi erst im Studium: Ein Freund drückte mir Hammett in die Hand, und damit ging’s los. In kürzester Zeit habe ich mich durch Hammett und Chandler gelesen, dann durch alles Verfügbare von Leo Malet, weiter ging’s mit Dorothy Sayers und Val McDermid. Damit waren dann Türe und Tore für jede Art von Kriminalroman geöffnet: von den Anfängen bis in die Gegenwart.

  1. Warum Krimis? Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an diesem Genre?

Krimis thematisieren Tabus und Grenzüberschreitungen. Wenn sie richtig gut sind, spüren sie den Verflechtungen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kriminalität nach, loten Grenzen (auch Genregrenzen) aus. Selten ist in Krimis etwas so, wie es im ersten Moment scheint, oft geht es um die Suche nach den Hintergründen, die zu einer Tat, einem Ereignis führen – und wenn ein Krimi richtig gut ist, dann gibt es weder einfache Antworten noch schlichte Wahrheiten. Gute Kriminalliteratur ist komplex – sowohl was die Figurenzeichnung als auch den Zugang zur Realität angeht. Und sie traut sich, (Genre-)Konventionen hinter sich zu lassen. Das mag ich.

  1. Wie würden Sie den deutschen Krimimarkt charakterisieren? Bestehen Unterschiede zum englischen Krimimarkt (UK und USA)? Welche?

Mir fehlt da der Überblick, ich habe vor allem mit dem deutschen Markt zu tun. Lässt man mal all den langweiligen Mainstreamkram nach Schema F oder die immer hysterischeren Thriller beiseite, dann gibt es überraschend viele interessante deutsche Autorinnen und Autoren, die sich zu lesen lohnen.

  1. Welcher Autor/Autorin ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Warum?

Im Augenblick mag ich „Sein blutiges Projekt“ (Originaltitel: „His Bloody Project. Documents relating to the case of Roderick Macrae“) von Graeme Macrae Burnet sehr, weil das Buch zeigt, wie breit aufgestellt, intelligent und unkonventionell Kriminalliteratur sein kann. Ein Spiel mit Lesererwartungen, mit Konventionen, mit Gewissheiten, mit Fragen der Authentizität und der Konstruktion von Wirklichkeit.

Vermutlich stoße ich nächste Woche schon wieder ein anderes Buch, das mich begeistert – aber gerade das schätze ich an Kriminalliteratur: dass sie – wenn sie richtig gut gemacht ist – überraschend und unerwartet ist, dass sie intelligent unterhält. Oder auch verstört (jenseits blutgetränkter Absurditäten). Auch das ist wichtig.

  1. Welchen bisher unentdeckten englischsprachigen Krimiautor/in würden Sie dem deutschen Publikum unbedingt empfehlen?

Oh, hm. Da muss ich passen, da ich englischsprachige Kriminalromane meist in der Übersetzung lese.

  1. Gibt es so etwas wie Modeerscheinungen im Krimigenre? Wenn ja, welche Mode herrscht gerade?

Nach wie vielen Jahren hört eine Mode auf, Mode zu sein, und wird fester Bestandteil des Markts? Ich weiß darum nicht, ob man die ganzen Regiokrimis noch als Mode bezeichnen kann, diese Spielart hält sich ja nun schon seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, und dehnt sich – nachdem inzwischen jedes Dorf in Deutschland abgegrast sein muss – schon seit längerem auf beliebte Urlaubsorte aus.

Außerdem gibt es zur Zeit Krimis, die als besonders literarisch hervorgehoben werden. Bei so etwas bin ich skeptisch: Zwar ist es toll, wenn ein Krimi gut geschrieben ist, aber um mit dem Genre umgehen zu können, muss man es kennen. Ein schön geschriebener Krimi, der ansonsten konventionell und langweilig ist, ist halt konventionell und langweilig. Richtig gute Kriminalliteratur verlangt einiges mehr.

Aber ansonsten gilt natürlich wie immer und überall: Moden kommen und gehen.

  1. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, glauben Sie, dass der Politkrimi in nächster Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird?

Wie oben schon gesagt: Richtig gute Krimis spüren den Verflechtungen von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Verbrechen nach, also der Realität. Darum ist es nichts grundsätzlich Neues, wenn das Weltgeschehen sich im Krimi widerspiegelt. Schön wäre es, wenn es mehr richtig gute Krimis gäbe, denen es um eine Auseinandersetzung mit der Realität geht – und damit dann auch mehr Krimis, die auf eine zu starke Komplexitätsreduktion verzichten.

  1. Gibt es für Sie Handlungsorte, Motive, Konstellationen oder Handlungsstrukturen, die Sie besonders reizen? Warum?

Zur Zeit mag ich Romane mit unzuverlässigen Erzähler*innen sehr gern. Nicht die, in denen die zumeist weibliche Hauptfigur durch Gedächtnisverlust oder Ähnliches eine verschobene Wahrnehmung hat und zum Opfer wird, sondern Romane, in denen die Erzählerin oder der Erzähler die Leserschaft ganz bewusst manipuliert. „Gone Girl“ von Gillian Flynn macht das in Ansätzen ganz gut, verliert dies aber irgendwann aus dem Blick. Solche Romane verlangen ein sehr waches, bewusstes Lesen, so etwas mag ich. Leider gibt es viel zu wenige davon.

Darüber hinaus gefallen mir intelligente Kriminalromane, die sich der Realität stellen, wobei es ganz egal ist, ob sie im 19. oder im 22. Jahrhundert spielen. Ich werde gern überrascht, schätze gutes Handwerk und das gekonnte Unterlaufen von Konventionen.

  1. Krimis haben in der Literaturszene immer noch ein wenig das Image des Schmuddelkindes, will sagen, sie gelten als trivial. Wie, glauben Sie, könnte man dem Krimi als Genre zu mehr Souveränität verhelfen?

Da hat sich in den letzten Jahren ja schon eine Menge getan: Kriminalliteratur wird in wachsendem Maße in den Feuilletons (vom Print bis zum Rundfunk) als Literatur wahrgenommen und jenseits des reinen Spannungsaspekts besprochen. Die Auseinandersetzung mit Krimis wird auf diese Weise vielfältiger und differenzierter. Um das zu unterstützen, braucht es vor allem mehr gute, mutige, unkonventionelle Kriminalromane und eine wache Leserschaft, die sich mehr als schlichte Unterhaltung nach dem immergleichen Schema wünscht.

Krimiscout bedankt sich herzlich bei Kirsten Reimers und wünscht ihr weiterhin viel Erfolg!


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Beitragsbild (c) Dirk Schönfeld, dsfotos.de