In unserer Reihe »Fahnderprofile« stellen wir diesmal Marcus Müntefering vor, der in der Krimiszene als Blogger, Rezensent und Jurymitglied der KrimiZEIT-Bestenliste bekannt ist. Er stellt die Gretchenfrage: »Ist Krimi überhaupt ein Genre, hat ein Richard Price irgendetwas gemein mit Henning Mankell oder Nele Neuhaus?«

  1. Steckbrief Marcus Müntefering

Ich habe immer schon geschrieben – vom Punk Fanzine vor mehr als 30 Jahren, für diverse Zeitungen und Magazine in den vergangenen 25 Jahren, inzwischen meist Online-PR. Freier Krimi-Kritiker für Spiegel Online, in sechs Jahren vielleicht 100 Rezensionen, mein Blog krimi-welt.de ist mehr öffentliches Archiv als echter Blog, mein Krimi-Fragebogen „Bloody Questions“ wird im Crimemag publiziert, seit Anfang 2015 Mitglied der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste.

  1. Wann kamen Sie das erste Mal mit Kriminal- bzw. Spannungsliteratur in Berührung?

„Hallo, hier spricht Edgar Wallace“ – das hat mich als Zwölfjähriger mächtig beeindruckt – ich habe erst die Filme geschaut (ach, Karin Dor!) und bin dann durch die Romane gerast, Goldmanns rote Reihe. Dann kamen die üblichen Verdächtigen dran: Christie, Sawyers, Gardner, Chandler, Hammett – in dieser Reihenfolge, immer so komplett, wie es die Leihbücherei in meinem Kaff bzw. das Taschengeld zuließ.

»Christie, Sawyers, Gardner, Chandler, Hammett – in dieser Reihenfolge, immer so komplett, wie es die Leihbücherei in meinem Kaff bzw. das Taschengeld zuließ«

  1. Warum Krimis? Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an diesem Genre?

Ach, ich weiß nicht. Natürlich fragt man mich oft, ob ich einen Krimi empfehlen könnte, und wenn ich dann mit meinen Tipps ankomme, dann heißt es, das seien ja gar keine echten Krimis. Also: Wenn wir zurück zu den Anfängen gehen, zu Wallace und Co., dann war das schon Eskapismus: schöne Frauen, tapfere Männer, dunkle Bedrohungen, und am Ende siegt das Gute und alle sind glücklich bis an ihr Lebensende. Das ist ja auch nichts Schlimmes, aber irgendwann wird man erwachsen (na ja, irgendwie) und merkt, dass das alles wenig mit dem wahren Leben zu tun hat. Und viel zu lieb ist.

»Ist Krimi überhaupt ein Genre, hat ein Richard Price irgend etwas gemein mit Henning Mankell oder Nele Neuhaus?«

Und dann stellt man fest, dass es da draußen ein Heer von tollen Autoren gibt, die sich einen Dreck um Genrekonventionen und Lesererwartungen scheren. Und dann beginnt es, wirklich interessant zu werden, wehzutun, Horizonte aufzureißen. Ich bin immer wieder erstaunt, so viele Krimileser zu treffen, die noch nie von Buddy Giovinazzo gehört haben, und weder Jim Thompson noch Charles Willeford gelesen haben. Also: Ist Krimi überhaupt ein Genre, hat ein Richard Price irgend etwas gemein mit Henning Mankell oder Nele Neuhaus?

  1. Wie würden Sie den deutschen Krimimarkt charakterisieren? Bestehen Unterschiede zum englischen Krimimarkt (UK und USA)? Welche?

Über den Markt können Verleger sicherlich mehr sagen als ich. Fraglos ist allerdings, dass, wer sich ernsthaft für den englischsprachigen Kriminalroman, für Noir und Pulp und all die anderen Spielarten, interessiert, nicht darum herum kommt, die Originale zu lesen. Leider sind Verlage wie Pulp Master, Alexander oder Polar die absolute Ausnahme. Das Angebot in Deutschland ist beschränkt, was andererseits ja auch ganz schön ist: Im Original ist fast jedes Buch besser, und das soll nicht die vielen guten deutschen Übersetzer schmähen, die für schmales Geld oft richtig gute Arbeit abliefern.

»Ich bin schon geprägt von der angloamerikanischen Literatur, die habe ich auch studiert, absichtslos, aus Leidenschaft« 

 

  1. Welcher Autor/Autorin ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Warum?

Ich bin schon geprägt von der angloamerikanischen Literatur, die habe ich auch studiert, absichtslos, aus Leidenschaft. Hier einen einzigen Namen aus dem Hut zu zaubern, scheint unmöglich, ungerecht. Am nachhaltigsten beeindruckt hat mich allerdings James Ellroy. Die absolute Härte seiner Bücher war damals, Anfang der Achtziger, wie ein Weckruf und entfachte meine Leidenschaft für Kriminalromane, die eine Zeitlang brachgelegen hatte, aufs Neue. Das hatte einen heftigen Punk-Spirit, und passte auf verquere Art in eine Reihe mit Charles Bukowski, der damals mein Liebling war.

  1. Welchen bisher unentdeckten englischsprachigen Krimiautor/in würden Sie dem deutschen Publikum unbedingt empfehlen?

Es wird höchste Zeit, Robert Campbell wiederzuentdecken, vor allem seine Hollywood-Romane. Irres Zeug. Und dann gibt’s da noch diesen schrägen Briten, Stewart Home, auch wenn ich schon wieder eine Stimme höre, die sagt: „Das ist doch kein Krimi, Marcus“. Und was ist eigentlich mit dem großen Derek Raymond

  1. Gibt es so etwas wie Modeerscheinungen im Krimigenre? Wenn ja, welche Mode herrscht gerade?

Ach, Moden kommen und gehen und haben mich noch nie sonderlich interessiert. Oder, und ich wollte schon immer mal Oscar Wilde zitieren: »Mode ist, was man selbst trägt. Was unmodern ist, tragen die anderen.«

  1. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, glauben Sie, dass der Politkrimi in nächster Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird?

Nichts ist ja langweiliger als Romane, die sich an Zeit-Phänomenen abarbeiten. Die sind morgen schon von vorgestern. Wenn man lesen will, wie Politik funktioniert, die Mechanismen der Macht, dann sollte man zu Ross Thomas greifen, der hat eigentlich schon alles gesagt. Natürlich gibt es Ausnahmen: Ein Roman wie James Gradys »Die letzten Tage des Condor«, den Thomas Wörtche gerade bei Suhrkamp herausgebracht hat, ist der perfekte Kommentar zu unserer Zeit. Eben weil er absolut zeitlos ist.

  1. Gibt es für Sie Handlungsorte, Motive, Konstellationen oder Handlungsstrukturen, die Sie besonders reizen? Warum?

Es gibt Konstellationen, die mich besonders wenig reizen: lineare Mordaufklärungen etwa oder geniale Serienkiller. Aber natürlich gibt es auch Ausnahmen, so schätze ich die an sich konventionellen Romane von Ian Rankin, vielleicht weil Rebus ein Mann ist, der so konsequent aus der Zeit gefallen ist, und der Österreicher Thomas Raab hat in „Still“ einen wunderbar verwunschenen Serienmörder erfunden. Also: Alles ist möglich, wenn der Autor weiß, was er tut.

»Alles ist möglich, wenn der Autor weiß, was er tut«

  1. Krimis haben in der Literaturszene immer noch ein wenig das Image des Schmuddelkindes, will sagen, sie gelten als trivial. Wie, glauben Sie, könnte man dem Krimi als Genre zu mehr Souveränität verhelfen?

Schmuddelkind zu sein ist doch nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Die besten Kriminalromane gehen dahin, wo es schmutzig ist und kaputt, sie dürfen, sie sollen im Dreck wühlen, mit Dreck werfen, Schlaglichter in vom Kapitalismus verwüstete Seelen werfen, uns mit Faustschlägen traktieren. So wie das alle große Literatur von Dostojewski über William S. Burroughs bis zu Dennis Cooper getan hat. Trivial ist die Seelenbespiegelungsschreiberei, wie sie immer noch von vielen Feuilletonisten hochgehalten wird. Vielen Dank!

Weiterführende Informationen

Marcus Müntefering bloggt auf Krimiwelt und schreibt über Krimis

für Spiegel Online, für Der Freitag und natürlich fürs Culturmag

Bildnachweis

Bild mit freundlicher Genehmigung des Autors