In unserer Reihe »Fahnderprofile« knöpfte sich Krimiscout den Krimiblogger Stefan Heidsiek vor. Hier sind seine Antworten.

  1. Steckbrief Stefan Heidsiek

SH: Ich wurde 1983 in Bielefeld geboren, lebe aber inzwischen glücklich im hessischen Exil.

Nach vier Semestern Literaturwissenschaften und Geschichte im Sommer 2006 schmiss ich erfolgreich mein Studium und begann eine Lehre im Buchhandel. Nach Abschluss der Ausbildung übte ich diesen Beruf drei Jahre lang aus. 2010 stieg ich auf dem Internetportal Krimi-Couch ein und über 500 Rezensionen später (viele davon auch außerhalb der Krimi-Couch) nahm ich 2014 meinen Abschied. Danach folgte ein kurzes Intermezzo als Rezensent bei Booknerds, bevor ich Oktober 2015 mit Crimealley meinen eigenen Blog startete.

  1. Wann kamen Sie das erste Mal mit Kriminal- bzw. Spannungsliteratur in Berührung?

SH (grinst): Das ist wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich vergesslicher Mensch den Satz „Ich kann mich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen“ verwenden darf, denn der Tag ist mir tatsächlich bis heute im Gedächtnis geblieben. Lässt man mal »Die drei Fragezeichen«, »TKKG« und Co. außer Acht, war ich bei meinem ersten Kontakt mit der Kriminalliteratur 14 Jahre alt. Der Ferienjob hatte damals eine einstündige Mittagspause, und um die Zeit totzuschlagen, kam ich auf die glorreiche Idee, mir aus der Stadtbibliothek ein Buch auszuleihen. Die Wahl fiel aufgrund der vorherrschenden Dino-Mania ausgerechnet auf eine alte, zerlesen Ausgabe von Sir Arthur Conan Doyles „Die verlorene Welt“, dem direkt im Anschluss „Das Tal der Furcht“ und die anderen Sherlock-Holmes-Geschichten folgten. Dann kamen bald darauf Agatha Christie, G. K. Chesterton, Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Ross MacDonald – die gängigen Einstiegsdrogen für den lebenslang Krimi-Süchtigen.

  1. Warum Krimis? Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an diesem Genre?

SH (denkt lange nach):  Puh, schwierig. Vielleicht weil es von allen Genres die durchlässigsten Grenzen besitzt. Wenn es denn überhaupt welche gibt.

Schaut man heute in die Abteilung Spannung einer Buchhandlung, steht da Ann Granger neben James Ellroy,  während sich Donald Ray Pollock auf dem Tisch zwischen Nele Neuhaus, Sabine Thiesler und Klüpfl/Kobr tummelt. Und dann gibt es auch noch Autoren wie z.B. gerade Lawrence Osborne, bei denen man sich fragt, ob die überhaupt in diese Ecke gehören, oder neben McCarthy, Ford, Williams, Steinbeck und Faulkner nicht besser aufgehoben wären.

Stilistisch und inhaltlich kann man bei oben genannten Autoren mit der Lupe nach Gemeinsamkeiten suchen. Ihnen gemein ist vermutlich nur die zentrale Frage: Warum tun Menschen anderen Menschen böse Dinge an? Wie unterschiedlich die Wege zu einer Antwort sind, ja ob es überhaupt eine gibt – diese Diversität, diese Freiheit von Konventionen trotz immergleicher Erwartungshaltung der Leserschaft – sie macht meines Erachtens den Reiz und die Faszination des Genres aus.

  1. Wie würden Sie den deutschen Krimimarkt charakterisieren? Bestehen Unterschiede zum englischen Krimimarkt (UK und USA)? Welche?

SH: Ich kenne den englischen Krimimarkt ehrlich gesagt zu wenig, um das beurteilen zu können. Rein nach Gefühl würde ich behaupten, dass die Vielfalt im Bereich der Spannung hierzulande höher ist und wir in Deutschland, trotz vieler Mainstream-Titel, vielleicht etwas experimentierfreudiger bzw. offener für Neues sind. Wenn man heute genau hinschaut, sind Krimis aus Afrika, Asien oder Australien keine Seltenheit mehr. Selbst außerhalb der Krimi-Bestenlisten. So sollte es für jeden von uns da draußen den passenden Titel geben. Ihn zu finden, ist die Kunst. Und da würd ich mir doch öfters mehr den Mut eines Markus Naegele, Wolfgang Franßen oder Günther Butkus wünschen, die entgegengesetzt zum vorherrschenden Trend einfach Bücher veröffentlichen, von denen sie voll und ganz überzeugt sind.

  1. Welcher Autor/Autorin ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Warum?

SH (lacht): Eine gemeine Frage an jemanden, der mit Leidenschaft Krimis sammelt. Welches Kind hat man am liebsten? Es gibt natürlich den ein oder anderen Autor, zu dem ich eine besondere „Beziehung“ habe. Sir Arthur Conan Doyle, weil er nicht nur die Tür zum Krimi, sondern auch zur Literatur für mich geöffnet hat und über den ich glücklicherweise auch im Forum der Krimi-Couch meine Lebensgefährtin kennengelernt habe, die ihn ebenso schätzt wie ich. Ohne Doyle keine Frau, keine zwei Töchter – da muss das Schicksal am Werk gewesen sein. James Lee Burke, weil Hardboiled nie poetischer und gleichzeitig auf gefühlsmäßiger Ebene schlagkräftiger war als unter seiner Feder. Und Ian Rankin, weil ich immer wieder gerne mit John Rebus in der Oxford Bar ein Pint trinke, um anschließend an seiner Seite in die dunklen Gassen Edinburghs abzutauchen.

  1. Welchen bisher unentdeckten englischsprachigen Krimiautor/in würden Sie dem deutschen Publikum unbedingt empfehlen?

SH: Da ich Krimis im Original nicht auch noch lese – das würde dann endgültig die Kapazitäten meiner Bibliothek sprengen – kann ich (zumindest derzeit) kein unentdecktes Juwel ans Herz legen. Es gibt allerdings einige, deren Wiederentdeckung ich seit langer Zeit entgegensehe. Nachdem das im Fall von Lansdale, Burke, Thompson und Block zuletzt geklappt hat, wären dies nun u.a. Derek Raymond (!!), James Crumley, Dan J. Marlowe, Stephen Greenleaf, James W. Hall, Max Allan Collins (die „Quarry“-Serie sollte Grund genug sein), David Goodis und Cornell Woolrich. Und auch wenn er keine Krimis geschrieben hat – Nelson Algrens „Der Mann mit dem goldenen Arm“ dürfte ebenfalls gerne mal wieder eine Neuauflage bekommen.

  1. Gibt es so etwas wie Modeerscheinungen im Krimigenre? Wenn ja, welche Mode herrscht gerade?

SH: Natürlich, gewisse Modeerscheinungen gibt es alle Jahre wieder. Und vor allem die im größeren Rahmen stattfindenden Trends lasse ich gerne desinteressiert an mir vorbeiziehen. Ist der ursprüngliche Auslöser oft vielleicht noch lesenswert (z.B. damals Mankell oder Larsson), kann mir die im Nachgang auftürmende Welle der Tritbrett-Literatur dann doch gestohlen bleiben.

  1. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, glauben Sie, dass der Politkrimi in nächster Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird?

SH (ernst): Inwiefern an Bedeutung? Ich glaube nicht, dass Krimis dazu dienen sollten, Antworten auf politische Fragen zu geben bzw. es nachhaltig ist, aktuelles Zeitgeschehen analysieren und dadurch Antworten finden zu wollen. Was jetzt aktuell ist, kann in zehn Jahren bereits wieder hoffnungslos veraltet sein. Die Lösung des Problems ist dann vielleicht. schon gefunden oder selbst zum Problem geworden. Am „Geschäft“ Politik und den Beteiligten, den Menschen, ändert sich allerdings nichts. Was das angeht, können also die prophetischen Beobachtungen Amblers durchaus angewandt werden, um das Heute zu beschreiben. Tolkien hat das ziemlich gut auf den Punkt gebracht, als er schrieb:

(…) „Doch die Allegorie in allen ihren Formen verabscheue ich von Herzen, und zwar schon immer, seit ich alt und argwöhnisch genug bin, ihr Vorhandensein zu bemerken. Geschichte, ob wahr oder erfunden, mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit im Denken und Erleben des Lesers ist mir viel lieber. Ich glaube, dass ‚Anwendbarkeit‘ mit ‚Allegorie‘ oft verwechselt wird; doch liegt die eine im freien Ermessen des Lesers, während die andere von der Absicht des Autors beherrscht wird.“ (…)

In diesem Sinne: Lieber vielfältige Anwendbarkeit als Leitfaden. Den such ich mir als gebildeter und an Politik interessierter Mensch doch dann tatsächlich selbst und woanders.

  1. Gibt es für Sie Handlungsorte, Motive, Konstellationen oder Handlungsstrukturen, die Sie besonders reizen? Warum?

SH: Nach heutigem Stand? Nein. Es liegt in den (hoffentlich fähigen) Händen des Autors, aus dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und obigen Grundelementen etwas auf Papier zu bringen, dass meine Aufmerksamkeit weckt. Das kann gerne kantig und brachial, aber auch verschnörkelt und poetisch sein. Das kann im viktorianischen Zeitalter spielen, im Berlin der Weimarer Republik oder in den Ghettos von L.A. – alles, nur nicht stereotyp oder linear, denn mittlerweile müsste eigentlich auch der letzte Leser von der x-ten „Profilerin-gerät-ins-Visier-des-Serienkillers“-Handlung gelangweilt sein.

  1. Krimis haben in der Literaturszene immer noch ein wenig das Image des Schmuddelkindes, will sagen, sie gelten als trivial. Wie, glauben Sie, könnte man dem Krimi als Genre zu mehr Souveränität verhelfen?

SH: Da ich inzwischen nicht mehr als Buchhändler tätig bin, kann ich reinen Gewissens antworten: Das ist mir ziemlich wurscht. Wer die Souveränität, welche viele Vertreter des Genres nicht erst seit heute mitbringen, nicht erkennen will, darf gerne weiter mit vielfach prämierter,  von selbsterklärten Gourmets abgenickter „Hochliteratur“ vorlieb nehmen. Meines Erachtens müssen Bücher – nicht nur Krimis – die Distanz zwischen fiktiver Handlung und dem Leser überwinden. Und was taugt besser zur Überwindung als ein Sprung in eiskalte, dunkle und eben schmuddelige Untiefen?

Krimiscout bedankt sich herzlich bei Stefan Heidsiek und wünscht weiterhin viel Erfolg!


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Beitragsbild (c) Christina Kreß