In unserer Reihe »Fahnderprofile« stellen wir diesmal Wolfgang Franßen vor, der mit seinem Polar Verlag kleine, aber sehr feine Spannungsautoren auf den deutschen Markt bringt. Über das Image des Genres meint er: »Wer will schon in Erhabenheit ersticken, wenn das pure Leben vor der Haustür liegt?« 

  1. Steckbrief Wolfgang Franßen

Nach über 20 Jahren als Theaterregisseur habe ich vor drei Jahren den Polar Verlag gegründet. Mehr braucht es nicht.

  1. Wann kamen Sie das erste Mal mit Kriminal- bzw. Spannungsliteratur in Berührung?

Meine erste, prägende Begegnung war tatsächlich die mit Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Ich war fasziniert von Raskolnikow. Später am Theater traf ich dann auf Büchner und „Woyzeck“. Und dazwischen war ich fest in französischer Hand. Allerdings zuerst dem französischen Film zugewandt. Melville, Malle, Dassin. Später kamen dann Manchette, Daeninckx, Leo Malet und natürlich Simenon dazu. Ich habe die Kriminalliteratur eher über den Film entdeckt und erst später nach Chandler, Hammett und Highsmith gegriffen. Und plötzlich öffnete sich ein ganzer Kosmos an Namen und Geschichten, der mit den Jahren immer größer geworden ist.

Plötzlich öffnete sich ein ganzer Kosmos an Namen und Geschichten, der mit den Jahren immer größer geworden ist“

  1. Warum Krimis? Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an diesem Genre?

Gute Kriminalliteratur geht dahin, wo es wehtut. Egal, ob gesellschaftlich, familiär oder als Ego-Trip. Sie wendet sich den Fragen zu, die entweder gar nicht oder zumindest schwer zu beantworten sind. Ohne die Realismusdebatte erneut zu beleben, möchte ich behaupten, dass dieses Genre unsere Zeit erheblich besser abbildet als andere. Vor allem sind Kriminalromane stilistisch so ausgerichtet, dass sie uns weit radikaler mit einem offenen Ende zurückzulassen können als andere, und dem Leser kein Happy End vorzugaukeln.

  1. Wie würden Sie den deutschen Krimimarkt charakterisieren? Bestehen Unterschiede zum englischen Krimimarkt (UK und USA)? Welche?

Die schnellste Antwort auf diese Frage lautet, dass man in UK und USA auf die deutschherrliche Unterscheidung zwischen U/E verzichtet. Ich treffe aber immer wieder auf Autoren, die gerne in Deutschland veröffentlichen, nicht nur, weil sie die Leser schätzen, sondern auch, weil es bei uns die Buchpreisbindung gibt.

 In UK und USA verzichtet man auf die deutschherrliche Unterscheidung zwischen U/E“

Der Kampf um Aufmerksamkeit geht auf den anderen Märkten nicht selten auch über den Buchpreis. Was bei uns die Vormerker sind, die oft über das Schicksal eines Autoren, einer Autorin entscheiden, ist dort manchmal eine gnadenlose Schlacht um den Verkaufspreis. Was den deutschen Krimimarkt betrifft, brauchen wir uns nur die Masse an Neuerscheinungen anzusehen. Er ist so unübersichtlich, dass dies sein größtes Manko ist.

  1. Welcher Autor/Autorin ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Warum?

Französische Autoren haben es in deutschen Buchhandlungen schwer. Mal von den wenigen Ausnahmen wie Vargas und Manotti abgesehen, die eine feste Stammleserschaft über die Jahre an sich gebunden haben. Autoren wie Chloé Mehdi, Marie Neuser, Benoît Séverac, Jacques Bablon, um nur einige Namen zu nennen, sind bei uns vollkommen unbekannt. Deswegen liegen mir meine Franzosen im Polar Verlag besonders am Herzen. Mit Jérémie Guez und Christian Roux tauchen da zwei Erzähler auf, die sich in der Tradition des klassischen Polar sehen und einen scharfen Blick auf die französische Gesellschaft werfen.

  1. Welchen bisher unentdeckten englischsprachigen Krimiautor/in würden Sie dem deutschen Publikum unbedingt empfehlen?

Hugh C. Rae „The Shooting Gallery“. Rae nimmt vieles vorweg, was  McIlvanney und Rankin später berühmt machte. Darüber hinaus liegen immer wieder interessante Namen auf meinem Tisch. So wie Barry Graham, M D Villiers, Tom Bouman, Allen Eskens oder auch Wally Rudolph. Allen wünsche ich, dass sie einen deutschen Verlag finden, weil mein eigenes Programm begrenzt ist.

  1. Gibt es so etwas wie Modeerscheinungen im Krimigenre? Wenn ja, welche Mode herrscht gerade?

Ach ja, die Moden. Die Verleger, die sich nicht darum scheren, leiden darunter, weil diese „angesagten“ Titel die Büchertische verstopfen. Sie werden immer dann lästig, wenn sie sich eigentlich schon überlebt haben und noch einmal in einer anderen Verkleidung auftauchen. Überlassen wir die Moden ruhig den Marketingabteilungen, da sind sie gut aufgehoben.

  1. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, glauben Sie, dass der Politkrimi in nächster Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird?

Wer noch nicht mitbekommen hat, dass die Welt sich ändert, der muss Scheuklappen besitzen. Der Politthriller ist sicher der Seismograph. Da ich ihm sehr zugetan bin, kann ich nur im Sinne des Néo-Polars sagen, hoffentlich kommt er nicht nur in filmreifen Popcorn-Plots daher. Nachdem der Märchenwald der „Häutungen“ und des „Hirnfressens“ im Mainstream-Splatter allmählich alle Variationen durchgehechelt hat, wäre es schön, wenn das Publikum den kleinen Geschichten mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Eine gute Geschichte ist immer politisch. Fast wäre ich hier versucht zwischen U und E zu unterscheiden, aber da klopfe ich mir jetzt selber erst mal auf die Finger.

  1. Gibt es für Sie Handlungsorte, Motive, Konstellationen oder Handlungsstrukturen, die Sie besonders reizen? Warum?

Alles was nicht gestrickt ist! Das kann in Berlin-Friedrichshain, Tansania oder auch Cape Town stattfinden. Vollkommen egal! Diese ganze Zielgruppensuche von Verlagen, die Autoren dazu verführen, das zu schreiben, was sich am Markt gerade gut verkauft, geht mir ziemlich auf die Nerven. Mich reizt das Unkonventionelle.

Mit dem Stigma Schmuddelkind lebt es sich ausgezeichnet. Wer will schon in Erhabenheit ersticken, wenn das pure Leben vor der Haustür liegt?“

 

  1. Krimis haben in der Literaturszene immer noch ein wenig das Image des Schmuddelkindes, will sagen, sie gelten als trivial. Wie, glauben Sie, könnte man dem Krimi als Genre zu mehr Souveränität verhelfen?

Sorry, aber das Genre ist souverän. Und mit dem Stigma Schmuddelkind lebt es sich ausgezeichnet. Wer will schon in Erhabenheit ersticken, wenn das pure Leben vor der Haustür liegt?

Vielen Dank!

Weiterführende Informationen

Polar Verlag Blog

Polar Gazette

Bildnachweis

Beitragsbild (c) Kerstin Petermann (mit freundlicher Genehmigung)