Nur hier bei Krimiscout: die exklusive deutsche Leseprobe des spannenden Romans A Time For Silence.
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Auf dem Weg durch den kleinen Ort blieb ich vor dem Schaufenster eines Immobilienmaklers stehen, um mein Spiegelbild zu betrachten. Erschöpft sah ich aus, mein Haar hing schlapp herunter, die Augen waren geschwollen. Na toll! Ich verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. Etwas besser.
Erst auf den zweiten Blick nahm ich überhaupt Notiz von den im Schaufenster beworbenen Objekten. In den vergangenen Monaten hatten Markus und ich zig solcher Immobilienanzeigen studiert, für sanierte Wohnungen in Regency-Altbauten, Dockland-Apartments und hochwertig ausgestattete Häuser am Stadtrand mit Verkehrsanbindung für Pendler. Doch in Wahrheit träumten wir von einem kleinen Refugium auf dem Land, weit weg von der Stadt. Markus hatte so eine romantische Vorstellung von einem Jagdschlösschen mit Türmen im wilden schottischen Moor. Zwar befand ich mich im Westen von Wales und nicht in Schottland, aber keltisch war es hier auch. Es gab sogar Hügel. Ich suchte zwischen den Fotos von modernen Bungalows und faden Reihenhäusern nach romantischen Anwesen mit Türmchen.
„Zu verkaufen: Cottage mit Nebengebäuden, für den Umbau geeignet.“
Ein altes Pfarrhaus. Viel zu groß. Eine umgebaute Mühle – schon besser. Interessant.
Dann sah ich ihn. Den Namen. Cwmderwen.
Ein fleckiger Zettel klemmte zwischen versprengten Anzeigen für Grundstücke und Garagen. Ohne lockendes Foto. Das vergilbte Papier hing offenbar schon Monate, vielleicht sogar Jahre hier.
„Zu verkaufen: Cwmderwen, Llanolwen, Cottage mit Nebengebäuden, für den Umbau geeignet.“
Zuerst war es ein Schock, ausgerechnet hier, mitten in Wales, diesen mir so vertrauten Namen zu lesen. Doch bei genauerem Nachdenken erschien es mir nur folgerichtig. Als ich acht oder neun Jahre alt war, hatte meine Mutter mir den Ort Llanolwen auf der Landkarte gezeigt. Damals musste ich als Teil eines Schulprojekts meinen Familienstammbaum erstellen, und sie hatte mir ihre Geburtsurkunde herausgesucht.
Sîan Ellen Owen, geboren am 23. Februar 1948, in Cwmderwen, Llanolwen; Vater: John Owen, Mutter Gwenllian Owen, geborene Lewis.
Meine Mutter war in Peterborough bei ihrer Tante Dilys aufgewachsen, deshalb war der Name des kleinen Hofs in Llanolwen in die Mottenkiste unserer Familiengeschichte gewandert. Nun stand er auf einmal, schwarz auf weiß, auf einer Anzeige im Schaufenster eines Immobilienmaklers. Da konnte ich nicht einfach weitergehen. Das musste ich mir ansehen.
Die junge Frau am Schreibtisch, die gerade einen Kunden über die genauen Details eines Objekts informierte, schenkte mir nur flüchtige Aufmerksamkeit, lächelte aber geschäftsmäßig.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Im Fenster bieten Sie ein Cottage an, Cwmderwen in Llanolwen. Kann man das besichtigen?“
Ihr hoffnungsvoller Gesichtsausdruck war verschwunden, als sie sich mir zuwandte und weitere Details zum Objekt herunterratterte. Selbst in diesen schlechten Zeiten war ein solcher Verkauf wenig lukrativ. Danach drückte sie mir den Informationsflyer in die Hand.
„Sie werden nicht reinkommen, es ist verschlossen.“
„Kein Problem. Ich will es mir nur kurz ansehen.“
Bis nach Llanolwen brauchte ich keine zwanzig Minuten, aber das Cottage hatte ich auch nach weiteren zwanzig nicht gefunden. „Die Zufahrt zum Grundstück befindet sich auf der rechten Seite kurz nach der Abzweigung zum Anwesen Castell Mawr“, stand auf meinem Flyer. „Sie ist durch einen Kilometerstein markiert.“ Welcher Kilometerstein? Schließlich beschloss ich, den Wagen neben der Einfahrt zu Castell Mawr abzustellen und zu Fuß weiterzusuchen.
Hinter einer breiten, von penibel beschnittenen Nadelbäumen gesäumten Ausbuchtung mit weißem Tor verlief die geteerte, klar beschilderte Auffahrt nach Castell Mawr. So weit, so gut. Am Ende der Ausbuchtung standen einige Bäume, darunter wuchsen Gras und Dornbüsche. Hier fand ich endlich den von Unkraut überwucherten Kilometerstein.
Es auch gab tatsächlich einen Pfad, der sich durchs Dickicht in ein kleines Waldstück wand. Meinen kleinen Fiat musste ich wohl stehen lassen und wie ein Pilger zu Fuß zu jener Gedenkstätte meiner Familiengeschichte wandern.
Selbst so wäre ich vermutlich nicht weit gekommen, hätte nicht vor Kurzem ein Traktor den Pfad wieder freigeräumt, die Dornenhecken gelichtet und niedergewalzt und an ihrer Stelle zwei matschige, mit Pfützen gefüllte Rillen in die Erde gegraben. Auf dem mühevollen Weg in dieses verwunschene Tal verlor ich fast meinen Turnschuh.
Da war es also: Cwmderwen. Großvater Owens kleine Farm. Unter Farm hatte ich allerdings bisher so was wie Dilys und Harrys schnuckeliges Landhaus in Buckinghamshire verstanden, das mit seiner geräumigen Veranda, den hohen Giebeln und dem gepflegtem Rasen inmitten einer von Weizenfeldern gesäumten Hügellandschaft thronte.
Aber nicht das hier. Ein Kokon aus verschlungenen Ästen, der Geruch von Schimmel und nassem Gras, Vogelgezwitscher und, irgendwo dazwischen, ein kleines, düsteres Cottage.
„Wie Skulpturen ragten Metallreste aus dem Kopfsteinpflaster im Hof, halb von fauligem Laub bedeckt.“
Selbst zu seinen besten Zeiten konnte auf diesem Anwesen keine nennenswerte Landwirtschaft stattgefunden haben. Ein kleinbäuerlicher Betrieb vielleicht. Die Unterlagen des Immobilienmaklers sprachen lediglich von einem Hof, einem überwucherten Garten und einem kleinen Waldgrundstück. Hinter einem verrosteten, mit Draht festgezurrten und von Brennnesseln und Dornensträuchern überwachsenen Tor erstreckte sich unbestelltes, freies Weideland. Welche Ländereien früher auch zu Cwmderwen gehört haben mochten, sie waren offenbar in andere Hände übergegangen.
Aber das Haus stand noch da. Bei der Beschreibung „für den Umbau geeignet“ hatte ich an pittoreske, vielleicht etwas renovierungsbedürftige Stallungen oder Betriebsgebäude gedacht, doch in Wahrheit verbarg sich hinter diesen Worten nichts als „völlig heruntergekommen, baufällig“. Wo einst Schweine- oder Kuhställe gestanden hatten, waren heute nur verfallene Steinhaufen zu sehen. Wie Skulpturen ragten Metallreste aus dem Kopfsteinpflaster im Hof, halb von fauligem Laub bedeckt. Dem Dach fehlten die Ziegel, und die Balken waren an mehreren Stellen eingebrochen.
Die Sonne blitzte kurz hinter den Wolken hervor, war aber schnell wieder verschwunden. Mir schauderte. Die Tür zum Cottage hatte man aus Sicherheitsgründen mit einem Vorhängeschloss versperrt, aber durch ein Fenster erkannte ich im dunklen Inneren einige Umrisse. Auf einer Gerüststange lag ein mit Farbe verschmierter Holzbalken, der die durchhängende Decke stützte. Neben dem großen Kamin mit rostiger Herdstelle führten übergroße wurmstichige Treppenstufen ins Dunkle. Ein weiterer Holzbalken und gelbes Klebeband blockierten den Weg nach oben.
Ich betrachtete die Herdstelle meiner Vorväter. Ewige Düsterkeit, der Gestank von Verwesung. Trockenfäule, Nassfäule, Holzwürmer – sämtliche Zersetzungsmechanismen waren hier am Werk. Verwittertes Laub raschelte auf dem schwarzen Steinboden, Spinnweben, dick wie Seile und mit Staub beschwert, baumelten von den gestrichenen Stützbalken und spannten sich über die schimmeligen Wände.
Dann fiel mein Blick auf die Anrichte. Riesig und traurig wirkte sie, als wäre ihr mein neugieriger Blick peinlich, wie sie so nackt und glanzlos im Schatten kauerte. Die offenen Türen hingen schief herab, die Regale bogen sich. Dieses massive Möbelstück musste einmal meiner Oma gehört haben.
An Oma konnte ich mich noch erinnern. Fast. Mit drei Jahren habe ich sie das letzte Mal besucht. Glänzender Linoleumboden, ein Eisenbett, welke Blumen, mein Lieblingsteddy … und sie irgendwo dazwischen, wie ein bleiches, müdes Fähnlein, halb erstickt vom Gestank von Krankheit und Desinfektionsmittel. Doch das war meine Großmutter gewesen, die Schwester meiner Tante Dilys. Meine Blutsverwandte. Und irgendwann hatte sie hier gelebt. Hatte auf diesem Steinboden gestanden und ihr teures, vergoldetes Porzellan auf diese Regale gestellt…“
(Auszug aus A Time for Silence, (c) Thorne Moore)
Copyright deutsche Übersetzung: Andrea O’Brien