Emily Fridlunds Debüt »History of Wolves« steht auf der Shortlist des Booker Prize 2017. Eine komplexe Struktur, eine vielschichtige Protagonistin und ein zentrales Thema: Das Böse im Menschen. Hält dieser ambitionierte Roman, was er verspricht? Krimiscout ermittelt.

»Wäre ich jemand anderes gewesen, hätte ich es vielleicht nicht so gesehen. Aber liegt da nicht genau der Kern des Problems? Würden wir nicht alle anders handeln, wenn wir nicht diejenigen wären, die wir sind?«

Anders als der Titel dieses komplexen Romans vermuten lässt, handelt Emily Fridlunds Debüt nicht etwa von Wölfen, sondern verweist lediglich auf das geradezu obsessive Interesse der weiblichen Hauptfigur an diesen Tieren.

ACHTUNG: Wer nicht erfahren will, um was es in diesem Roman geht, sollte diese Besprechung nicht weiterlesen!

Von der Hoffnung zur Katastrophe

»History of Wolves« ist aus der Sicht der vierzehnjährigen Ich-Erzählerin Madeline (Linda oder Mattie) geschildert, die in den Wäldern im Norden Minnesotas lebt. Sie und zwei Erwachsene – ihre Eltern oder auch nicht – sind die letzten Mitglieder einer ehemaligen Kommune, die sich damals hier niederließ. Sozialisiert in einer Gemeinschaft, die abgeschottet von der Welt existierte, ist Madeline in der Schule Außenseiterin, sie passt nicht in die Welt ihrer Mitschülerinnen und verbringt ihre gesamte Freizeit allein. Ihre »Eltern«, unberechenbar und kaum fürsorglich, begegnen ihr mit wenig Herzlichkeit und Wärme.

Das Leben des Teenagers ändert sich, als eine neue Familie, die Gardners, in ein bis dahin leerstehendes Häuschen am anderen Seeufer zieht. Es dauert nicht lange, bis Madeline sich mit der jungen Mutter anfreundet und sich als Babysitterin ihres vierjährigen Sohnes Paul annimmt. In dieser vermeintlich heilen Familie findet Mattie das, was sie so schmerzlich vermisst hat. Doch was sich als Hoffnungsschimmer im Leben eines einsamen Mädchens andeutete, entwickelt sich mit quälender, aber unaufhaltsamer Schicksalhaftigkeit zu einer entsetzlichen Katastrophe.

Dieser Roman ist kein klassischer Thriller, ja nicht mal ein Krimi, aber er setzt sich mit mehreren Verbrechen auseinander

 

Wer anhand dieser Inhaltsangabe den üblichen Babysitter-Thriller erwartet, liegt völlig falsch. Dieser Roman ist kein klassischer Thriller, ja nicht mal ein Krimi, aber er setzt sich mit mehreren Verbrechen auseinander, von der Pädophilie bis zum Kindsmord (damit verrate ich nicht zu viel, denn das wird gleich auf der ersten Seite klar) und versucht, sich unter dem Aspekt der »Psychologie des Bösen« an sie anzunähern.

Baum Seeufer mit Hütte, Bild 1 zur Krimiscout-Besprechung von Emily Fridlunds Roman »History of Wolves«Inhaltlich wie strukturell ist »History of Wolves« recht anspruchsvoll, weil nicht linear erzählt. Leser arbeiten sich im Rückblick bis zum Kern der Geschichte vor. Die ältere Madeline berichtet mit sachlicher, ja geradezu klinischer Stimme von den tragischen Ereignissen vor und nach dem Tod des kleinen Paul, verwebt diese quälenden Episoden aber mit verschiedenen Anekdoten aus ihrem Leben, die in der unmittelbaren und längeren Vergangenheit zurückliegen.

Besonders spannend sind hier die verschiedenen Tonlagen der Ich-Erzählerin, die bei ihren ausführlichen Naturbeschreibungen eine nachgerade poetische Hingabe entwickelt, doch bei allen Schilderungen menschlicher Interaktionen, sei es mit ihrem Lehrer, ihrer Mitschülerin, dem kleinen Paul, ihren Eltern oder ihrem späteren Freund, eine auffällige, fast pathologische Distanziertheit aufbietet.

Natur als Figur

Die Wälder, der See, ihr Heimweg von der Schule, das Wetter, der Wind – all diese Elemente nehmen die Rolle von Nebenfiguren ein, sie bevölkern die Geschichte dieses einsamen Mädchens, sind ihr Resonanzboden, ihre Zuflucht, ihre Gegenspieler und ihre Freunde.

Die junge Madeline verbringt viel Zeit in der Einsamkeit der Wälder Minnesotas und entwickelt somit eine ganz besondere Beziehung zu ihrer Umgebung. Diese Verbindung ist allerdings nicht nur zärtlich, sondern oft brutal und rau. Die Wälder, der See, ihr Heimweg von der Schule, das Wetter, der Wind – all diese Elemente nehmen die Rolle von Nebenfiguren ein, sie bevölkern die Geschichte dieses einsamen Mädchens, sind ihr Resonanzboden, ihre Zuflucht, ihre Gegenspieler und ihre Freunde.

Nicht umsonst wählt sie als Thema für ein Schulprojekt über historische Ereignisse der Weltgeschichte ausgerechnet die Geschichte der Wölfe – und gewinnt einen Trostpreis für Originalität. Nahezu symbolisch liegt Madeline auch bei ihren Interaktionen mit Menschen immer leicht neben der Spur. Diese tragische Verblendung, der Umstand, dass dieses junge Mädchen keine sozialen Antennen entwickelt hat, führt schließlich zur Tragödie.

Wie ein leeres Kanu im See

Wie bereits erwähnt, behandelt Fridlund in ihrem Debüt eine Reihe komplexer Themen, die sie allerdings nicht zur vollen Zufriedenheit des Lesers durchdringt und abschließt. Andeutungen über tragische Ereignisse, die ihren Schatten vorauswerfen, bringen Spannung in die Erzählung, nur irgendwann muss das eintreten, was über Seiten hinweg erahnbar ist. Kurz gesagt: Es dauert einfach zu lange, bis der Leser endlich erfährt, wie sich die Dinge ereignet haben, deren Ausgang er seit der ersten Seite kennt.

Die Distanziertheit der Protagonistin, die folgerichtig und spannend mit kühler, gefühlloser Sprache erzählt, macht es dem Leser schwer, eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen.

Dazu entwirft Fridlund diverse Nebenhandlungen, die unverbunden neben dem zentralen Plot herlaufen und in der Folge des Romans nicht aufgelöst werden. Die Distanziertheit der Protagonistin, die folgerichtig und spannend mit kühler, gefühlloser Sprache erzählt, macht es dem Leser schwer, eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen. Madeline selbst scheint sich nicht sicher, wer sie eigentlich ist, denn sie ändert ihre Namen je nach Situation, scheint durch ihr Leben zu treiben wie ein leeres Kanu mitten im See. Und seltsam: Dieses Bild passt auch zu dem unbefriedigenden Schluss dieses Romans.

Fazit: »History of Wolves« ist ein ambitionierter, streckenweise meisterhaft erzählter Roman, der letztlich zu viele Themen aufgreift und diese nicht befriedigend auflöst.

(c) Andrea O’Brien, 2017