Kelly Braffet wurde 1976 in Long Beach, Kalifornien, geboren. Sie lebte einige Zeit in Arizona, im ländlichen Pennsylvania und in Oxford, UK. Nach dem Abschluss an der Columbia University schrieb sie 2005 ihren ersten Roman. Seither gilt sie als Spezialistin für psychologisch komplexe Figuren in dysfunktionalen Beziehungen. Kelly Braffet lebt mit ihrem Mann, dem Autor Owen King, und ihrem Sohn in Upstate New York.
Kelly Braffet im Interview mit Krimiscout
KS: Ist ein Buch erst einmal erschienen, hat der Autor keine Kontrolle mehr darüber. Wie stehen Sie zu dieser These?
KB: Interessante Frage! Wenn ich ein Buch in die Welt hinausschicke und es dort seine ersten Leser findet, stelle ich mir vor, ich und meine Leser hätten nun gemeinsame Freunde, denn wir kennen dieselben Personen, aber jeder von uns ,,kennt“ sie auf eine andere Weise, sieht sie mit anderen Augen. Jahrelang haben diese Figuren mein Hirn bevölkert, und lange Zeit wusste nur ich von ihrer Existenz. Dann erscheint mein Buch, und auf einmal machen auch andere Menschen mit ihnen Bekanntschaft. Bei der Vorstellung läuft mir jedes Mal ein kleiner Schauer über den Rücken. Wenn Leser mit mir über Patrick oder Caro plaudern, als wären sie ihnen tatsächlich begegnet, möchte ich sie im ersten Moment fragen: ,,Sie kennen Patrick Cusimano? Den kenne ich auch! Na, so ein Zufall!“ Erst dann fällt mir wieder ein, dass es sich ja um Romanfiguren handelt.
Im Vorfeld der Veröffentlichung habe ich allerdings so meine Schwierigkeiten mit dem Loslassen. Nicht so sehr bei der Überarbeitung – ich habe das Glück, mit großartigen Lektoren zusammenzuarbeiten -, sondern eher beim Marketing. Jedes Mal, wenn ich die ersten Abzüge des Buchcovers erhalte, bin ich total nervös, weil ich nicht weiß, ob das, was der Verlag den Lesern anpreist, noch immer mein Buch ist. In dieser Angelegenheit hatte ich bisher ebenfalls Glück, aber dieser Moment spannt mich jedes Mal aufs Neue auf die Folter.
KS: Würden Sie sagen, Sie gewinnen mit jedem Buch mehr Selbstvertrauen?
KB (seufzt): Schön wär’s! Bis jetzt habe ich vier komplette Romane geschrieben, wovon einer noch nicht erschienen ist. Ein weiteres Buchprojekt ist ungefähr zur Hälfte abgeschlossen. Jedes dieser Bücher hat allerdings einen völlig anderen Entstehungsprozess durchlaufen. Auch meine Arbeitsweise unterscheidet sich, je nach Tagesform. Es gibt Phasen, da schiele ich ständig auf mein Pensum, weil ich einfach nicht vorwärtskomme, dann wieder arbeite ich wie eine Besessene und nutze jede freie Minute. Es gibt Zeiten, da setzte ich mir ein strenges Ziel und halte mich auch daran. Bei manchen Projekten entwickele ich vorher ein Konzept, bei anderen schreibe ich drauflos oder wähle einen Mittelweg zwischen beiden Arbeitsmethoden. Manchmal kommt es mir vor, als wäre jedes Buch ein Fluss, den es zu überqueren gilt – und jedes Mal muss ich ein neues Boot bauen. Auf diese Weise entwickelt man allerdings kein rechtes Selbstvertrauen. Tatsächlich war mein erstes Buch (Josie and Jack / Fabulous Things) das Leichteste von allen, weil ich nicht damit rechnete, dass es einen Verlag finden würde. Deshalb setzte ich mich auch nicht unter Druck. Jetzt bin ich mir immerzu bewusst, dass am Ende jemand meinen Text lesen, beurteilen, ablehnen oder annehmen wird. Weil ich diesen Prozess so oft durchlaufen habe, weiß ich mittlerweile genau, was mich erwartet.
Manche Bücher schreiben sich leichter als andere. Mein zweiter Roman (Last Seen Leaving) floss praktisch aus mir heraus, während Save Yourself was von einem Ringkampf hatte. Als Save Yourself endlich erschienen war, verbrachte ich fast anderthalb Jahre mit einem Manuskript, das nie richtig funktionierte. Das war eine grässliche Erfahrung, die mich ziemlich entmutigt hat. Das Projekt, an dem ich momentan arbeite, entwickelt sich erheblich besser, und es ist eine solche Erleichterung, wieder unbelastet schreiben zu können.
KS: Wie gefällt Ihnen das Schreiben als Vollzeitbeschäftigung? Geht es Ihnen manchmal auf die Nerven?
KB: Ich habe mich jahrelang als Bürokraft verdingt (meist in der Verwaltung) und war zweifellos die schlechteste Angestellte der Welt. Und so unglücklich! Jeder Aspekt dieser Arbeit war mir zuwider: die unbequemen Business-Klamotten, die ständigen Meetings, das Pendeln. Jetzt bin ich viel zufriedener. Mein Mann arbeitet auch zu Hause, wir haben ein Rudel Katzen, und keiner verlangt von mir, dass ich meine Stunden abrechne. Das ist gut so.
,,Twitter ist so was wie der Kaffeeautomat im Büro, wo sich alle zum Quatschen treffen, allerdings muss ich tierisch aufpassen, dass ich mich nicht zu lange dort aufhalte“
Anfangs war es allerdings eine ziemliche Umstellung. Als ich mich entschloss, meinen Job an den Nagel zu hängen und nur noch zu schreiben, dachte ich zuerst, ich hätte alle Zeit der Welt für meine Bücher. Mich an den Schreibtisch zu setzen und am Manuskript zu arbeiten erschien mir auf einmal nicht mehr so dringend. Erst nach der Geburt unseres Kindes wurde ich disziplinierter. Mittlerweile habe ich das richtig gut im Griff – kein Wunder, denn meine Zeit ist jetzt sehr begrenzt. Außerdem war mein letzter Job gar nicht so schlecht und ich verstand mich prächtig mit meinen Kollegen, sodass ich mich zu Beginn meiner Selbstständigkeit tatsächlich ein bisschen einsam fühlte. Soziale Netzwerke linderten dieses Gefühl allerdings ein wenig. Twitter ist so was wie der Kaffeeautomat im Büro, wo sich alle zum Quatschen treffen, allerdings muss ich tierisch aufpassen, dass ich mich nicht zu lange dort aufhalte. Aus dem Grund habe ich mir ein Programm namens Freedom installiert, das meine Internetverbindung periodisch unterbricht. Das hilft mir, bei der Sache zu bleiben.
KS: Wo schreiben Sie?
KB (kichert): Das Zimmer, in dem ich arbeite, befindet sich in einem versteckten Winkel unseres Hauses. Dort steht ein weicher Sessel, in dem ich schreibe, und ein zweiter Sessel, der eigentlich für meinen Mann gedacht war, doch unsere älteste Katze, ein echter Griesgram, hat ihn sofort besetzt, und jetzt bringt es keiner von uns übers Herz, sie runterzuscheuchen. In diesem Zimmer ist jede Ablage voller Bücher, sogar auf dem Boden stapeln sie sich. Wir wohnen im Wald und vor meinem Fenster steht ein wunderschöner Baum, außerdem stehen auf der Fensterbank lauter witzige Spielsachen, die mich glücklich machen. Ich gebe es zu: der Rest unseres Hauses ist relativ ordentlich, aber in meinem Arbeitszimmer herrscht das totale Chaos. Eigentlich könnte man innerhalb kürzester Zeit Ordnung schaffen, aber ich habe immer irgendwie was Besseres zu tun – außerdem macht mir Unordnung nichts aus.
„Ich gebe es zu: der Rest unseres Hauses ist relativ ordentlich, aber in meinem Arbeitszimmer herrscht das totale Chaos.“
KS: Gibt es einen Mythos über Schriftsteller, den Sie gern entlarven würden?
KB (denkt nach): Ach, ich weiß nicht. Mit dem Schreiben kann man nicht viel verdienen. Die meisten Autoren arbeiten als Lehrer, Seminarleiter oder Dozenten, gehen einer anderen selbstständigen Tätigkeit nach oder haben eine weitere Einkommensquelle. Nur wenige von uns sich tatsächlich berühmt. Wenn ich sehe, wie glamourös Schriftsteller in Filmen oder im Fernsehen dargestellt werden, muss ich immer lachen. (Ja, genau dich meinte ich, Castle!) Ich bin sicher, es gibt nur wenige Autoren, die tatsächlich so leben, die meisten von uns haben einen stinknormalen Alltag. Wir waschen unsere Wäsche, unsere Computer infizieren sich mit Viren, und sogar Schriftsteller müssen mal zum Zahnarzt.
,,Sogar Schriftsteller müssen mal zum Zahnarzt“
Am schlimmsten finde ich aber, dass viele Leute den Aufwand und die Herausforderungen unseres Berufs völlig unterschätzen. Ich weiß schon, es handelt sich hier nicht um harte körperliche Arbeit, es gibt schwerere Jobs als meinen, und keine Frage, am Ende eines Arbeitstages sind wir sowieso alle erledigt. Was ich sagen möchte ist, dass Menschen, die nicht schreiben, den kreativen Prozess leicht unterschätzen. Mir sind schon viele Studenten begegnet, die mich baten, ihnen bei der Veröffentlichung ihres ihrer Meinung nach fertigen Buchmanuskripts zu helfen. Erst bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass sie gerade mal die Rohfassung in den Computer getippt hatten. Ich musste ihnen schonend beibringen, dass sie jetzt wieder von vorne anfangen, das Buch komplett überarbeiten und diesen Prozess ungefähr sieben oder acht Mal wiederholen müssten. Es gibt ein Motto unter Schriftstellern, das heißt: ,,Schreiben heißt Überarbeiten.“ So sehe ich das auch.
KS: Wie viel Zeit verbringen Sie täglich mit dem Schreiben? Arbeiten Sie nach einem strengen Zeitplan, oder hängt Ihr Pensum eher von der Tagesform ab?
KB: Wenn mein Sohn in der Schule ist, habe ich Zeit zum Arbeiten. Manchmal haben wir am Wochenende einen Babysitter, oder einer von uns kümmert sich um ihn, damit der andere ein paar Stunden arbeiten kann, aber generell findet die Arbeit eben nur in diesen freien Stunden unter der Woche statt. Aus diesem Grund ist der Winter eine schwierige Zeit, denn bei Schneefrei muss auch die Arbeit ausfallen. Meist verbringe ich den Vormittag mit Bürokram, Rechnungen bezahlen, E-Mails schreiben und so, und am Nachmittag schreibe ich. Dabei versuche ich, zwei Stunden am Stück konzentriert zu schreiben, und momentan habe ich mir ein Tagespensum von mindestens 2000 Wörtern gesetzt. Doch wie ich bereits sagte, jedes Projekt ist anders. Jede Lebensphase ist anders. Es gab Zeiten, da war ich froh, wenn ich 1000 Wörter am Tag aufs Papier brachte und an manchen Tagen war nicht mehr als eine Viertelstunde Arbeitszeit drin. Einer meiner Professoren an der Uni hat uns immer geraten, wenigstens einmal am Tag einen Blick auf unseren Text zu werfen, und wenn es nur für ein paar Minuten ist. Das halte ich auch heute noch für einen guten Rat. Auch wenn man nur kurz reinliest, behält man den Text im Kopf, und wenn man sich dann wieder dransetzt, ist alles noch frisch im Gedächtnis.
KS: Macht Ihnen das Schreiben immer Spaß?
KB (zieht eine Grimasse): Ich glaube, es gibt nichts, was immer Spaß macht! Natürlich ist es manchmal zäh. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich ins Stocken gerate, wenn irgendwas am Text nicht stimmt, ich also irgendwo einen Fehler gemacht habe. Es kann verdammt anstrengend und frustrierend sein, nach diesem Fehler zu suchen, vor allem, wenn sich im Laufe dieser Suche auch noch herausstellt, dass die ganze Geschichte nicht funktioniert. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine Geschichte an den Haaren herbeizuziehen. Das ist so, als würde man jemanden zur Liebe zwingen. Den Fehler zu finden ist allerdings ein höchst befriedigendes Erlebnis. Wenn dann wieder alles fließt – ach, herrlich!
„Es gibt nichts Schlimmeres, als eine Geschichte an den Haaren herbeizuziehen. Das ist so, als würde man jemanden zur Liebe zwingen“
KS: Wie wichtig ist der Ort in Ihren Romanen?
KB: Sehr wichtig! Save Yourself ist im westlichen Pennsylvania verortet. In dieser hoch industrialisierten Gegend sind die Menschen nicht besonders mobil. Hätte ich das Buch in einer weniger isolierten Gegend mit einer höheren Mobilität angesiedelt, wären die Figuren logischerweise einfach weggezogen, wenn es ihnen in ihrer Heimat nicht gefallen hätte. Dann wäre aus dem Roman allerdings auch eine andere Geschichte geworden. Ich versuche, alle Aspekte meiner Romane in Einklang miteinander zu bringen, also eine Art Gleichgewicht herzustellen zwischen Ort, Plot, Figuren und Ton. Eine Geschichte ist wie Musik, und jedes Instrument hat seinen Platz.
KS: Welche Geschichten oder Autoren haben Sie beeinflusst?
KB: Meine größte Inspiration erhielt ich von Autoren, die Anfang oder Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieben, wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Jim Thompson und Patricia Highsmith. Die Idee zu Save Yourself erhielt ich allerdings aus dem Internet, genauer gesagt von Kommentarseiten im Internet, auf denen zornige, frustrierte Menschen ihrer Wut auf die Welt lautstark Ausdruck verleihen. Man vergisst leicht, dass es sich hinter diesen Kommentaren und anonymisierten Namen Menschen aus Fleisch und Blut verbergen. Genau solche Menschen bevölkern meinen Roman – obwohl sie in der Geschichte kaum Zeit im Internet verbringen.
KS: Was kommt als Nächstes?
KB: Momentan arbeite ich an einer Sache, die sich zu einem längeren Fantasy-Roman entwickelt. Dieses Projekt habe ich schon seit Jahrzehnten im Kopf gehabt, doch erst jetzt habe ich die Zeit gefunden, die Geschichte aufzuschreiben. Es stehen erst die ersten hundert Seiten, deswegen will ich nicht zu viel verraten. Wie alle meine Bücher geht es auch hier ziemlich zur Sache, die meisten Figuren sind tragisch und treffen keine besonders klugen Entscheidungen.
Krimiscout bedankt sich für die interessanten Antworten und wünscht Kelly Braffet viel Erfolg!
Dt. Übersetzung: Andrea O’Brien
© Krimiscout 2015
Bildnachweis
Beitragsbild © Missy McLamb
Bild 1 © Kelly Braffet
Bild 2 © Kelly Braffet (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
Krimiscout Service
Dieses Interview ist im englischen Original erhältlich. Einfach das Kontaktformular ausfüllen und abschicken!
Interview in English available upon request. Contact form below.
[si-contact-form form=’1′]