Nur hier bei Krimiscout: die exklusive deutsche Leseprobe des spannenden Romans In The Rosary Garden.

[wppdf id=’1408′]

(…) Der Fotograf bat Ali, sich unter dem alten Apfelbaum aufzustellen und über seine Schulter hinweg zum Haus zu schauen. Seine gesteigerte Aufmerksamkeit war ihr unangenehm, und bei jedem Klicken der mit einem riesigen Objektiv ausgerüsteten Kamera zuckte sie zusammen. Vor lauter Nervosität zog sie die Mundwinkel nach oben.

„Nicht lachen!“, mahnte der Fotograf, „Denk an was Trauriges.“

Während sie also ins Leere stierte, stiegen Bilder in ihr auf, vom Garten, vom Schuppen, und mit ihnen das Gefühl, dass nicht nur die vergangenen vierundzwanzig Stunden, sondern auch dieser lächerliche Fototermin nichts weiter als eine überzeugende Halluzination gewesen waren, eine Irrfahrt, über die sie keinerlei Kontrolle hatte.

Eine Erinnerung arbeitete sich an die Oberfläche und wollte genauer betrachtet werden.

Langsam wurden die Bilder deutlicher.

Die Kamera klickte, aber Alis Gedanken kreisten nicht mehr um die Gegenwart, sondern um eine Zeit, die zwölf Jahre zurücklag.

 

Weil er so schwer war, trug sie den Karton auf den verschränkten Armen. Beim Aufheben hatte sie sein Gewicht gar nicht bemerkt, außerdem fühlte sich die Pappe unter ihren schwitzenden Fingern feucht an, irgendwie klebrig. Vorsichtig tastete sich Ali die Treppe hinab.

Die Wohnzimmertür war angelehnt, aber sie hatte keine Hand frei, deshalb stieß sie sie mit dem Fuß auf. Zur Feier des Tages trug sie ihre besten Schuhe, die schwarzen aus echtem Leder. Geräuschlos glitt die Tür auf. Die gesamte Familie hatte sich unter dem Baum versammelt, die Cousins spielten am Boden mit ihren Spielsachen und auch Davy war mit seinem Geschenk beschäftigt. In ihrem engen Kleid und mit Make-up im Gesicht sah Ma fremd und irgendwie traurig aus. Weil Weihnachten war, trug Onkel Joe seinen Sonntagsanzug und hatte sogar die Kappe abgesetzt. Die Haare klebten ihm platt am Schädel.

Zuerst bemerkten sie sie gar nicht. Doch dann sah Ma auf, und die anderen folgten ihrem Blick.

„Was hast du denn da?“, fragte sie.

„Hab ich gefunden“, erwiderte Ali. „Da ist eine Puppe drin.“

„Hab ich gefunden“, erwiderte Ali. „Da ist eine Puppe drin.“

„Dreh den Kopf. Kinn hoch, aber nach unten schauen“, befahl der Fotograf. „Wir haben es gleich.“

Damals hatte sie alle angestarrt. Jetzt lag der neugierige Blick des Fotografen auf ihrem Gesicht. Plötzlich schämte sie sich.

„Reicht das?“, fragte sie. „Reicht das denn nicht endlich?“

Bei ihrer Frage ließ der Mann kurz die Kamera sinken, und sie wandte sich ab und marschierte einfach zurück zum Haus. Ihm blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Ihre Mutter brachte ihn zur Tür. Gedämpfte Stimmen zum Abschied, undeutliches Gemurmel, dann ein übertriebenes Seufzen. Ali harrte in ihrem Zimmer aus, bis die Luft endlich rein war, und sie freie Bahn zum Telefon im Erdgeschoss hatte.

Der schwarze Apparat befand sich in einer Nische unter der Treppe. Die kleine Auswurfmuschel stand offen, so konnten sie dasselbe abgescheuerte Geldstück leicht herausholen und immer wieder verwenden.

Ali fummelte das Zehn-Cent-Stück aus der Muschel und schob es in den Einwurfschlitz. Als Fitz ranging, drückte sie einen Knopf.

„Mum hält mich vom Telefon fern. Du hast Glück, dass du mich erwischt hast“, murmelte Fitz statt einer Begrüßung.

„Wie geht es dir?“

„Ich weiß es nicht. Scheiße, Ali. Ich hab ständig das kleine Gesicht vor mir.“

„Ich auch …“

„Hab kein Auge zubekommen.“

„Ich und Davy haben uns ein paar hinter die Binde gegossen, das hat geholfen.“

„Dein Onkel ist so cool, der gefällt mir.“

„Hast du der Polizei gesagt, wo wir Sonntagabend waren?“

„Nö. Danach hat mich keiner gefragt. Bei dem Gedanken daran krieg ich immer noch ne Gänsehaut…“

„Hey, weiß du was? Das glaubst du nicht. Ein Reporter von der Independent hat in der Früh hier angerufen, und ich musste so tun, als wär ich nicht zu Hause. Hab einfach behauptet, ich wär meine Schwester.“

„Hast du mit ihm geredet?“

„Nix da! Dad meinte, die sind wie die Geier. Haben sie es schon bei dir versucht?“

„Keine Anrufe … aber ein Fotograf ist bei uns aufgetaucht, und Mum hat ihn einfach reingelassen.“

Sie erzählte Fitz, dass ihre Mutter mit Sean O’Loan gemeinsame Sache gemacht hatte.

„Die haben mich einfach überrumpelt. Ich bin so blöd.“

Entgegen Alis Erwartung widersprach Fitz nicht, sondern ließ sich stattdessen darüber aus, wie grässlich es bei der Polizei gewesen sei.

Nachdem Fitz ihrem Unmut freien Lauf gelassen hatte, herrschte Schweigen in der Leitung, das sich wie ein Abgrund immer weiter zwischen ihnen ausbreitete. Ali schlug vor, Fitz einen kurzen Besuch abzustatten, aber Fitz lehnte ab, sie würden gleich zu Mittag essen.

„Was gibt’s bei euch?“, fragte Ali, krampfhaft um etwas Normalität bemüht.

Fitz schnaubte genervt.

„Salat oder so. Nichts Besonderes.“

Ali fragte nicht weiter und verabschiedete sich rasch. Sie wollte gerade auflegen, da klingelte das Telefon erneut. Der Hörer vibrierte in ihrer Hand.

„Hallo?“

„Hallo. Spreche ich mit Alison Hogan?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie klang samtweich und irgendwie vertraut.

„Ja, das bin ich.“

„Ach, wie schön, dass ich dich gleich erreicht habe. Mein Name ist Mary O’Shea…“

Mehr hörte Ali nicht, denn vor lauter Schreck rauschte es in ihren Ohren. Mary O’Shea. Jeder kannte Mary O’Shea aus dem Radio. Ali hatte die Stimme durch das Rauschen und Knacken in der Leitung nur nicht sofort zuordnen können. Sie versuchte, den Sinn der Worte zu begreifen, die da aus dem Hörer drangen, aber erst beim Namen Sean O’Loan setzte ihr Verstand wieder ein.

„…und dann meinte Sean, ich sollte doch einfach mal bei dir anrufen und dich fragen, wie es dir so geht.“

„Okay…“

„Er hat behauptet, du bist ein schlaues Ding. Willst Jura studieren und so“, säuselte O’Shea.

„Ja, hoffentlich sind meine Noten gut genug.“

„Sean sagte, deine Mutter sei eine ganz wundervolle Person, ein echter Freigeist, und so stark.“

Das klang überhaupt nicht nach ihrer Mutter, aber die Leute hatten offenbar ein anderes Bild von ihr. Als Ali den Blick hob, sah sie den „Freigeist“, immer noch im Kimono, mit einem Tablett voller Becher und Gläser in die Küche schlurfen.

„Nett von ihm …“ stammelte Ali, um Zeit zu gewinnen, bis ihre Mutter wieder außer Hörweite war.

„Ach, jetzt quatsche ich die ganze Zeit herum“, sagte Mary. „Am Telefon kann man sich nicht vernünftig unterhalten. Wahrscheinlich bist du noch immer ganz durcheinander, aber ich wollte fragen, ob wie beiden Hübschen uns nicht mal auf ein Schwätzchen treffen könnten. Das fände ich wirklich schön.“

„Ich weiß nicht…“

„Wie wäre es mit Kaffee im Shelbourne Hotel? Nur wir beide?“

 

             Kapitel 5

 

Swan legte die druckfrischen Ausgaben der Independent Press und Herald auf den Tisch. Da es der Fall offensichtlich nicht auf die Titelseiten geschafft hatte, verlängerte er seine kleine Auszeit in der düsteren Stille des Gravediggers’ Pub und genoss seinen Kaffee. Der Barmann hatte die Arme auf der Theke verschränkt und überflog seine eigene Zeitung. Hinter der Holzwand, die den vorderen Teil des Pubs vom hinteren trennte, erklang heiseres Lachen. Die Alten hatte er schon bei seiner Ankunft bemerkt, Seite an Seite schlürften sie ihr Stout und tuschelten wie kleine Mädchen. Hier, im hinteren Teil, hörte man nur das Rascheln der Zeitung, das langsame Ticken der Uhr und das Gurgeln der Toilettenspülung hinter der braunlackierten Tür. Hätte jetzt noch ein Collie mit dem Schwanz auf den Boden geklopft, hätte man glatt das Gefühl gehabt, irgendwo in einem Pub auf dem Land zu sitzen.

Eigentlich hätte er vom Kloster aus direkt auf die Polizeiwache fahren müssen, doch er wollte erst mal lesen, was die Zeitungen so über den Fall schrieben. Und nachdenken musste er auch.

Kavanagh, der Chief Superintendent, hatte ihn schon um kurz nach sieben angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er sich ein schnelles Ende wünsche, denn Fälle wie diesen sollte man meiden wie der Teufel das Weihwasser. Vornehm war das zwar nicht ausgedrückt, aber Swan wusste genau, worauf sein Chef damit hinauswollte. Hier hatten sie es gleich mit dem vollen Programm zu tun.

Ein totes Neugeborenes in einem Kloster, also Verbrechen und Religion, dazu ein bisschen Sex. Das Ganze hatte sich obendrein noch in einer der besten Schulen am Ort ereignet, was Geld und Standesdünkel ins Spiel brachte. In dieser aufgeheizten Stimmung kurz vorm Referendum zum Abtreibungsrecht, wo das in zwei erbitterte Lager gespaltene Volk lautstark darüber stritt, ob der Schutz des ungeborenen Lebens oder die gebärenden Frauen wichtiger waren, würde dieses brisante Verbrechen sicher Öl ins Feuer gießen. Kein Wunder, dass Kavanagh hektisch rumsirrte wie eine Schmeißfliege auf der Fensterscheibe.

 

(Auszug aus In The Rosary Garden, (c) Nicola White)

Copyright deutsche Übersetzung: Andrea O’Brien2015