In unserer Reihe »Fahnderprofile« sprechen wir mit Autor, Kolumnist und Kritiker Tobias Gohlis, der unter anderem die KrimiZEIT-Bestenliste ins Leben rief. Er sagt: »Gute Kriminalliteratur darf alles. Und traut sich oft nicht.«

  1. Steckbrief Tobias Gohlis

Tobias Gohlis, 1950 in Leipzig geboren, Studium Politologie und Germanistik, lebt in Hamburg.

Schon bevor ich 2001 – schon 15 Jahre ist das her! – die Krimikolumne in der ZEIT übernahm, habe ich mich als Kritiker sporadisch intensiv mit Kriminalliteratur beschäftigt. Richtig ernst wurde es danach. 2005 gründete ich die KrimiZEIT-Bestenliste, in der zur Zeit einundzwanzig deutschsprachige Kritiker monatlich für die zehn besten Kriminalromane votieren. Meine Aufgabe – neben der Organisation der Abstimmung und der Proliferation an die kooperienden Medien – ist die Kommentierung der neuen Titel: Inhaltsangabe und Wertung mit maximal 350 Zeichen.

  1. Wann kamen Sie das erste Mal mit Kriminal- bzw. Spannungsliteratur in Berührung?

Als Achtjähriger fand ich bei einer Tante in den Ferien unter hunderten Reader‘s Digest einen Krimi von Rex Stout. Seitdem habe ich nur ein Ziel: Einen Orchideengarten auf dem Dach eines Stadthauses in Manhattan.

  1. Warum Krimis? Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an diesem Genre?

»Kriminalliteratur darf alles. Und traut sich oft nicht.«

Vor den Krimis las ich deutsche und griechische Heldensagen – der kleine Junge in mir liest weiter.

Gute Kriminalliteratur öffnet den Blick in die Gegenwart, in Seelen- und Handlungsräume, die der Alltagswahrnehmung verborgen sind, widersetzt sich den Rechtfertigungsklischees und ideologischen Stereotypen. Kriminalliteratur darf alles. Und traut sich oft nicht.

  1. Wie würden Sie den deutschen Krimimarkt charakterisieren? Bestehen Unterschiede zum englischen Krimimarkt (UK und USA)? Welche?

Der deutschsprachige Markt ist offener für Literatur aus anderen Weltgegenden. Kommerziell überall die ähnliche Mischung aus Blockbusterei und Nische, Dominanz des als massenkompatibel behaupteten Mainstreams. Im Vergleich zur britischen Krimilandschaft fällt auf, dass die Kultur drum rum in Deutschland sehr viel weniger entwickelt ist

  1. Welcher Autor/Autorin ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Warum?

Erstaunlicherweise (und zum Glück für einen Kolumnisten) beeindrucken mich immer wieder neue Autoren. So lange das so bleibt, mache ich weiter. Die Liste meiner Favorites passt nicht auf Ihre Website.

  1. Welchen bisher unentdeckten englischsprachigen Krimiautor/in würden Sie dem deutschen Publikum unbedingt empfehlen?

Ich kenne eher die übersetzten Autoren.

  1. Gibt es so etwas wie Modeerscheinungen im Krimigenre? Wenn ja, welche Mode herrscht gerade?

Thomas Wörtche hat alles Vernünftige dazu gesagt: »Moden haben manchmal eine sehr lange Dünung und existieren so lange, bis die Formate endgültig ausgelutscht sind.«

Besonders bescheuert sind die Stereotypen, die angebliche nationale Eigenheiten behaupten, der „Schwedenkrimi“ beispielsweise, den Fachhochschulstudenten als „Erfolgsmarke“ studieren.

  1. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, glauben Sie, dass der Politkrimi in nächster Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird?

»In Deutschland fehlt es den meisten (Polit-)Krimis noch an Frechheit und Respektlosigkeit gegenüber der Politikerkaste und ihren (Un-)Sitten«

Ja, aber ob er die Zeitläufte so erfasst und begreift, wie es etwa Eric Ambler mit der Zwischenkriegszeit gelang, kann man erst später beurteilen.

In Deutschland fehlt es den meisten (Polit-)Krimis noch an Frechheit und Respektlosigkeit gegenüber der Politikerkaste und ihren (Un-)Sitten, und auch an Raffinesse, aber mit dem wachsenden public Blödsinn wird die Demut hoffentlich schwinden.

  1. Gibt es für Sie Handlungsorte, Motive, Konstellationen oder Handlungsstrukturen, die Sie besonders reizen? Warum?

Alles, was ich nicht kenne, reizt mich. Kriminalliteratur eröffnet die Welt: Länder, Menschen, Gesellschaften, Rechtssysteme, Motive, Denkweisen. Je mehr Kriminalromane ich gelesen habe, desto höher sind meine Ansprüche und die Reizschwelle

»Trivial sind auch die meisten »Romane«. Da besteht kein Unterschied zum »Krimi«, nur redet darüber niemand«

  1. Krimis haben in der Literaturszene immer noch ein wenig das Image des Schmuddelkindes, will sagen, sie gelten als trivial. Wie, glauben Sie, könnte man dem Krimi als Genre zu mehr Souveränität verhelfen?

Die KrimiZEIT-Bestenliste ist (bei aller Bescheidenheit) einer der wenigen gelungenen Versuche in dieser Richtung. Sie propagiert literarisch und thematisch interessante Kriminalromane, gibt dadurch dem Publikum Anregungen und könnte den Horizont der Schriftsteller erweitern.

Trivial sind auch die meisten »Romane«. Da besteht kein Unterschied zum »Krimi«, nur redet darüber niemand. Allerdings ist die Lobby für die relevante Literatur im Krimibereich kleiner.

Souverän können immer nur die Autoren sein, die sich ganz auf sich, ihr Wissen und ihre Verantwortung gegenüber den Lesern verlassen.

 


Weiterführende Informationen

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Die KrimiZEIT-Bestenliste www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

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