Welche Zutaten sind erforderlich, um Leser zu fesseln und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen? Am Beispiel des bereits 2015 erschienenen und mehrfach ausgezeichneten Romans »The Long and Faraway Gone« von Lou Berney ermittelt der Krimiscout in Sachen Spannung.
Viele Frösche fangen den Wurm – oder so
Möglicherweise gibt es ja tatsächlich Menschen, die sich fragen, warum der Krimiscout immer so lange braucht, bis er eine neue Besprechung veröffentlicht. Nein, es liegt nicht nur an meinem inneren Schweinehund. Wenn ich nämlich gerade nicht Literatur übersetze oder meinen Alltag bezwinge, widme ich mich tatsächlich dem Lesen. Und so habe ich in den letzten Wochen stapelweise (noch nicht auf Deutsch erschienene) Krimis durchforstet. Doch leider haben mich die meisten bereits nach den ersten zehn Seiten gelangweilt. Dafür gab es verschiedene Gründe, die von klischeehafter Sprache, abgenutzten Settings, zig mal durchexerzierten Konstellationen, unglaublich einfältigen Plots bis zu scherenschnittartigen Figuren reichten.
Doch dann flatterte mir Lou Berneys Roman »The Long and Faraway Gone« auf den Tisch – und er hat mich restlos begeistert.
Warum? Das werde ich in den nächsten Abschnitten genauer erläutern.
»The Long and Faraway Gone«: Drei Menschen auf der Suche
Vorher möchte ich kurz skizzieren, worum es geht.
»The Long and Faraway Gone« spielt in Oklahoma City, die Erzählzeit wechselt zwischen heute (also vermutlich um 2015) und den frühen 1990ern. Wir haben es mit drei Hauptfiguren zu tun, Wyatt, Julianna und Candace. Alle drei drücken der Geschichte ihren Stempel auf und treiben sie voran. Die Handlung besteht aus drei Hauptsträngen, die sich an mehreren Stellen treffen und dann wieder auseinanderlaufen. Zwei voneinander unabhängige Tragödien liefern den jeweiligen Dreh- und Angelpunkt.
Wyatt Rivers ist ein Privatermittler, der wegen eines Falls aus Las Vegas in seine frühere Heimatstadt Oklahoma City zurückkehrt (genau, die mit dem Bomber). Candace Kilkenny ist die Cousine eines Freundes, dem Wyatt einen Gefallen tun möchte. Sie hat eine Musikkneipe geerbt, in der es neuerdings immer wieder zu mysteriösen und leicht bedrohlichen Ereignissen kommt. Wyatt soll der Sache auf den Grund gehen. Die Rückkehr in seine Heimatstadt ist für ihn unerwartet traumatisch, denn vor 25 Jahren wurden Wyatt und seine damaligen besten Freunde dort Opfer eines Raubüberfalls. Seine Freunde wurden erschossen, nur Wyatt überlebte. Durch die Rückkehr nach Oklahoma City brechen bei ihm alle verdrängten Gefühle wieder auf, und die Vergangenheit holt ihn mit voller Wucht ein.
Auch Juliannas Leben ist von der Vergangenheit gezeichnet. Das tragische Verschwinden ihrer älteren Schwester Genevieve bei einem Jahrmarktsbesuch hat sie nie verwunden. Auch fünfundzwanzig Jahre nach dem Verschwinden ihrer Schwester ist Julianna ein menschliches Wrack und außerstande, sich von der Vergangenheit zu lösen. Sie hat die Suche nach Genevieve nie aufgegeben.
Der Anfang: Hier kocht der Chef!
Wie ich bereits im Einstieg erwähnte, haben mich in letzter Zeit viele Krimis bereits nach den ersten Seiten angeödet.
Schon auf den ersten Seiten wird der Grundstein für den Erfolg – oder Misserfolg – eines Spannungsromans gelegt.
Und in so einem Fall bin ich ziemlich brutal. Ein Krimi, der es wagt, mich zu langweilen, wird gnadenlos eliminiert: Ich setze ihn in einem Karton vor meiner Haustür aus, mit einem Schild »Zu verschenken« um den Hals.
Bleibt also festzuhalten: Schon auf den ersten Seiten wird der Grundstein für den Erfolg – oder Misserfolg – eines Spannungsromans gelegt.
Und was macht Lou Berney? Womit hat er mich in seine Geschichte gelockt?
Lou Berneys Einstieg ist … anders. Und damit schon mal interessant. Er beginnt seinen Roman mit einer Nebenfigur namens Bingham. Im ersten Kapitel wird aus Binghams Perspektive erzählt, er ist Geschäftsführer in einem Kino und ärgert sich tierisch über seine jugendlichen Mitarbeiter, vor allem über einen nassforschen Jungspund namens O’Malley, der Bingham ständig an der Nase herumführt.
Und schon bin ich drin! Es dauert nicht lange (perfektes Timing!), da wird meine erste Neugier gestillt. Und nicht nur das: Der Autor versetzt mir schon hier, am Ende des allerersten Kapitels, eine emotionale Volldröhnung vom anderen Stern. Schleicht sich von hinten an und Zack! Ab da hat der Mann mich am Haken – und lässt mich nicht mehr los.
Der Einstieg ist dem Autor also mehr als gelungen.
Die Handlung: Rätsel, Gewalt, Gefühle, die Vergangenheit
Ist der Einstieg also gelungen und der Leser hängt am Haken, gilt es nun, ihn immer weiter in die Geschichte zu ziehen. Um das zu erreichen, bedarf es einer guten Handlung.
Die uns allen gemeinsame Vorliebe für Spannungstitel reduziert die vielen individuellen Qualitätskriterien zu einer überschaubaren Menge an Zutaten, die uns bei geschickter Dosierung und Mischung ein gewisses Lesevergnügen versprechen.
Natürlich scheiden sich hier die Geister, jeder Leser hat so seinen eigenen Geschmack. Was die eine gut findet, muss der anderen noch lange nicht gefallen. Aber. Die uns allen gemeinsame Vorliebe für Spannungstitel reduziert die vielen individuellen Qualitätskriterien zu einer überschaubaren Menge an Zutaten, die uns bei geschickter Dosierung und Mischung ein gewisses Lesevergnügen versprechen.
Unbedingt zu vermeiden: zu viel Weichspüler (Heimat, Katzen, Strickpullover, Pralinen, Blumenbouquets … schon klar, oder?)
Reizvolle Zutaten sind – für mich jedenfalls: ungelöste (Vermissten- oder Mord-)Fälle, eine komplexe Handlung und – sehr wichtig – eine anspruchsvolle, vielschichtige Gemengelage, die Fragen aufwirft, mich bei der Suche nach der Antwort aber nicht durch leicht vorhersehbare, weil allgemein bekannt, schon hundertmal verwendete Konstellationen unterfordert und mir so den Spaß am Weiterlesen verdirbt.
Vor allem aber möchte ich etwas ganz Banales: eine Geschichte erzählt bekommen. Ich will mich einfühlen, will das Feuer riechen, die Hitze spüren, mir alles ganz genau vorstellen können, als wäre ich selbst dabei gewesen. Das ist es doch, was ein guter Roman können muss. Und Lou Berney? Oh ja, der liefert. Denn er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem man seine Leidenschaft für eine gute Story sofort abnimmt. Also: Bingo! Auch die Handlung überzeugt.
Die Figuren: Menschen, die dem Leser zu Freunden werden
Wenn die Figuren doof sind, ist der ganze Krimi hin.
Die Handlung stimmt, die Geschichte wird spannend erzählt, aber die Figuren sind a) langweilig oder b) nervtötend oder c) abstoßend oder d) unglaubwürdig, weil charakterlich nicht stimmig angelegt. Diese Liste ließe sich fortsetzen, soll aber hier genügen.
Kurzum: Wenn die Figuren doof sind, ist der ganze Krimi hin.
Wie sieht es mit Wyatt, Candace und Julianna aus, den Hauptfiguren in Lou Berneys Roman?
Wyatt Rivers begegnet uns zunächst als PI in Las Vegas. Er beschattet einen Mann, der sich für eine hochrangige Position in einem großen Casino beworben hat. Dieser Mann benimmt sich einwandfrei, hat offenbar keinen Dreck am Stecken. Doch Wayne ist ein Schlitzohr, ihm fällt etwas auf, das andere vielleicht übersehen hätten. Und siehe da, er bewahrt seinen Kunden vor einem großen Fehler. Wyatt ist also intelligent, mit allen Wassern gewaschen und offenbar ein netter Kerl.
Durch Vielschichtigkeit erschafft Berney Figuren, die den Leser faszinieren und gleichzeitig Empathie auslösen
Aber er hat eine dunkle Seite, die der Autor zwar immer wieder andeutet, jedoch nicht genauer erklärt. Einen Blick auf Wyatts weichen Kern erhaschen wir vor allem in den Rückblenden, wo uns dieser sonst so schlaue PI als zutiefst verunsicherter, schüchterner und einsamer Teenager begegnet. Durch Vielschichtigkeit erschafft Berney Figuren, die den Leser faszinieren und gleichzeitig Empathie auslösen. Eine perfekte Mischung!
Candace ist ein echter Knaller. Sie ist klein, aber drahtig, und lässt sich durch nichts einschüchtern. Diese Frau hat schon nach ein paar Minuten das Herz der Leserin erobert. Doch auch Candace hat erheblich mehr zu bieten und wirkt dadurch rund und nicht – wie hier vielleicht einige vermuten – wie ein wandelndes Klischee. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Julianna ist völlig anders. Sie begegnet uns zunächst als kleines, hochintelligentes Mädchen, das von der älteren und sehr viel hübscheren (dem Leser aber zunächst eher unsympathischen) Schwester auf dem Jahrmarkt sitzen gelassen wird. Die Schwester verschwindet in der Menge und wird nie wieder gesehen.
Die drei Hauptfiguren begegnen uns als Fremde, die uns im Laufe des Romans zu Freunden werden
Auch fünfundzwanzig Jahre nach dieser traumatischen Erfahrung wirkt die junge Frau, zu der Julianna nun herangewachsen ist, zerbrechlich und nicht in ihrem Leben verankert. Lou Berney wäre allerdings nicht so erfolgreich, wenn er nicht auch hier mit überraschenden Wendungen und Facetten aufwarten würde.
Durch seine geschickte, einfühlsame Figurenzeichnung gelingt dem Autor vor allem eines: Die drei Hauptfiguren begegnen uns als Fremde, die uns im Laufe des Romans zu Freunden werden. Und das ist für mich eine der faszinierendsten Leistungen dieses Romans.
Hatte ich schon erwähnt, dass ihr Lou Berneys »The Long and Faraway Gone« unbedingt lesen solltet?
(c) Andrea O’Brien, 2019