Fiona Griffiths, die weibliche Hauptfigur des Romans The Strange Death Of Fiona Griffiths, (Als ich tot war, Übersetzung von Andrea O’Brien) Band drei der Thrillerserie von Harry Bingham, ist die ungekrönte Königin der schrägen Krimiheldinnen.
Geheimtipp mit Suchtpotenzial
Obwohl Band eins (Talking To The Dead) und zwei (Love Story, With Murders) schon länger in der deutschen Übersetzung von Kristof Kurz (Totenklage, Totenspiel) vorliegen und momentan im Rowohlt Verlag neu aufgelegt werden, ist diese hervorragend geplottete Serie mit ihrem starken Suchtpotenzial aus unerfindlichen Gründen immer noch ein Geheimtipp für Kenner. Aber wozu gibt es Krimiscout? Damit noch mehr Krimifreunde in den Genuss der hochkarätigen Thrillerserie von Harry Bingham kommen, ernennen wir Band drei mit dem ominösen Titel The Strange Death Of Fiona Griffiths kurzerhand zum Krimiscout-Tipp des Monats Januar.
Diese Heldin tickt nicht richtig
Fiona Griffiths ist die schrägste Protagonistin, die dem Krimiscout bisher untergekommen ist. Und um es gleich vorwegzunehmen: Mich hat diese warmherzige, sensible, bockige und völlig durchgeknallte Heldin NICHT an Lisbeth Salander erinnert! Sie ist unkonventionell, intelligent und eine Kämpfernatur – aber da hören die Vergleiche auch schon auf. Die Figur der Fiona Griffiths ist faszinierend, psychologisch genial gezeichnet und in ihrer Vielschichtigkeit so eigenständig, dass ein platter Vergleich mit anderen ungewöhnlichen Heldinnen der Krimiszene ihr einfach nicht gerecht wird.
Im Alter von drei Jahren im Auto eines Waliser Großkriminellen ausgesetzt und prompt adoptiert, erkrankte Fiona als Teenager so schwer, dass sie lange Jahre in der Psychiatrie verbringen musste, bis sie endlich wieder ins Leben (das sie gelegentlich als „Planet Normal“ bezeichnet) fand. Die niederschmetternde Diagnose lautete: Cotard-Syndrom. Menschen, die unter dieser Psychose leiden, erleben eine schwerwiegende Störung ihres Selbstgefühls, die ihnen bei starker Ausprägung sogar suggeriert, sie seien tot. Harry Bingham hat diese Krankheit nicht einfach aus der Luft gegriffen und dann ein wenig recherchiert, sondern seine Idee basiert auf seinen Einblicken in das Leben und Leiden einer betroffenen Patientin.
Mit ihren meisterhaft entwickelten Charakterfacetten ist Fiona Griffiths eine der faszinierendsten Protagonistinnen, die die moderne Thrillerszene gegenwärtig zu bieten hat
Es ist aber genau diese Störung, die die Figur der Fiona Griffiths so spannend macht. Denn eine Frau, die schon bei ganz unspektakulären Vorgängen wie Klamotten kaufen in Bedrängnis gerät und bei Gefühlsregungen des menschlichen Miteinanders, die andere als selbstverständlich voraussetzen und erwarten, auf erlernte Techniken und Vermutungen angewiesen ist, erlebt ihren Alltag ständig als Abenteuer. Umso nachvollziehbarer ist es, dass Fiona – die Polizistin – nach besonders fordernden Tagen den Geräteschuppen ihres Gartens aufsucht, um ein wenig Cannabis zu genießen, das sie für den Eigenbedarf dort angebaut hat. Nachvollziehbar, aber für den Leser nicht minder überraschend sind auch andere Aspekte dieser Heldin mit einer mysteriösen Vergangenheit. Trotz ihrer Dysfunktionalität – oder vielleicht sogar deswegen – ist Fiona keine deprimierende Figur. Ganz im Gegenteil, ihre Schwächen machen sie sympathisch, dabei sind ihre blitzschnelle Auffassungsgabe, ihr trotziges Beharren auf Gerechtigkeit und ihr unerschütterliches Ringen mit ihrem Schicksal nur einige von vielen meisterhaft entwickelten Charakterfacetten, die diese junge Frau zu einer der faszinierendsten Protagonistinnen macht, die die moderne Thrillerszene gegenwärtig zu bieten hat.
Vom harmlosen Betrugsdelikt zum mörderischen Coup
Schon in den ersten beiden Bänden dieser furiosen Serie erfährt der Leser, dass Ermittlerin Fiona Griffiths aufgrund ihrer psychischen Störung eine besondere Beziehung zu Toten hat. Dementsprechend gelangweilt sitzt sie an ihrem neuesten Fall, bei dem sie lediglich einen buchhalterischen Betrugsdelikt aufzuklären hat. Doch im Laufe ihrer Ermittlungen in diesem recht unspektakulär anmutenden Verbrechen stößt sie auf die erste Tote, die unter rätselhaften Umständen ums Leben kam: Sie ist verhungert. Was ihre Kollegen schnell als Selbstmord abtun, ist für Fiona ein Verbrechen mit einem Schuldigen, das sie zu sühnen trachtet. Noch während sie in diesem ersten Fall ermittelt, ereignet sich ein zweiter, diesmal eindeutig mit dem Betrugsdelikt zusammenhängender Mord. Fionas Ermittlungseifer ist vollends entfacht. Sie entdeckt immer deutlichere Anzeichen dafür, dass die beiden Toten lediglich Kollateralschäden bei den Vorbereitungen zu einem richtig großen Coup waren.
Fiona hat erst vor Kurzem eine Ausbildungseinheit für Undercover-Agenten absolviert, und das mit eindrucksvollem Erfolg, denn wie sich schnell herausstellt, fällt es ihr aufgrund ihrer psychischen Disposition sehr leicht, in verschiedene Undercover-Rollen zu schlüpfen. Unter dem Decknamen Fiona Grey wird sie so zu einer Reinigungskraft aus prekären Verhältnissen, die ihrer „Legende“ nach wegen einer Vorstrafe und auf der Flucht vor ihren gewalttätigen Freund in London untergetaucht ist. „Fiona Grey“ wird in die Buchhaltungsabteilung eines betroffenen Unternehmens eingeschleust und erregt schon bald die Aufmerksamkeit der Betrüger, die sie mit psychologischem Druck dazu zwingen, sie bei ihrem verbrecherischen Treiben zu unterstützen. Fiona weiß, dass ihr Leben auf dem Spiel steht, doch die Grenzen zwischen ihren Persönlichkeiten werden zunehmend fließend, und ihre Beziehung zum Sicherheitschef der Bande wird gefährlich intim. Nur Fiona Griffiths kann das ultimative Verbrechen verhindern, doch was will Fiona Grey?
Krimiscout warnt: Der Genuss dieser Serie kann süchtig machen!
Mit Fiona Griffiths hat Autor Harry Bingham nicht nur eine unvergessliche Heldin geschaffen, sondern auch eine zutiefst liebenswerte Figur, zu der die Leser innerhalb kürzester Zeit eine innige Beziehung entwickeln. Das allein erklärt allerdings nicht, warum man diese Bücher regelrecht verschlingt und sich zügeln muss, die Bände nicht gierig nacheinander wegzulesen. Harry Bingham ist ein ungewöhnlicher Autor mit eigener Schreibwerkstatt, in die er Krimiscout im demnächst hier erscheinenden Interview einen kleinen Einblick gewähren wird. Kein Wunder also, dass seine Romane von ausgefeilter Handwerkskunst zeugen. Nicht nur bei seinen meisterhaften Figurenzeichnungen und der perfide geplotteten Handlung ist Bingham vielen seiner Kollegen haushoch überlegen, seine Geschichten entfalten auch durch das gekonnt kontrollierte Erzähltempo einen unwiderstehlichen Sog. Die stets perfekt recherchierten, plausibel gestrickten und in ihrer Art recht ungewöhnlichen Fälle entwickeln sich zunächst langsam, nehmen aber dann rasant Fahrt auf, und ziehen den wie ein Flitzebogen gespannten, mittlerweile nägelkauenden Leser zusammen mit der Heldin unbemerkt in die dunkelsten Abgründe der Verbrecherwelt. Wie, so fragt man sich regelmäßig, will die gute Fiona aus dieser Situation wieder rauskommen? Die Antwort auf diese und andere Fragen findet der neugierige Krimifan, wenn er sich auf diese Serie einlässt. The Strange Death of Fiona Griffiths funktioniert übrigens sowohl als eigenständiger Krimi als auch als Teil der Serie.
Eine wahre Freude für jeden Spannungsjunkie!
UPDATE: Dieser Titel ist im Herbst 2017 im Wunderlich Verlag unter dem deutschen Titel »Fiona – Als ich tot war« erschienen. (Übersetzung von Andrea O’Brien)
Der Autor
Harry Bingham arbeitete zunächst als Investmentbanker, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Heute lebt der Vierzigjährige mit Frau und Kindern in Oxfordshire/UK. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit gibt Bingham Seminare und Workshops. Zu seinen Freizeitbeschäftigungen gehört Klettern, Wandern und Schwimmen.
© Krimiscout 2016
Steckbrief Fiona Griffiths
Sehen Sie hier einen Steckbrief von Fiona Griffiths und mehr Informationen zur Verfilmung des ersten Bandes „Talking to the Dead“ mit Sophie Rundle als Fiona Griffiths auf Sky TV.
Buchinfo
Titel: The Strange Death Of Fiona Griffiths Format: Taschenbuch Verlag und Erscheinungsjahr: Orion 2015 Seiten: 464
Weiterführende Informationen
Ein Interview mit Harry Bingham lesen Sie hier
Bildnachweis
Beitragsbild © Andrea O’Brien
Bild 1 © Theresa Hanich