Das zweite Pandemie-Jahr in Folge war nicht weniger schräg als das erste, aber zumindest hatten wir im Sommer eine kurze Verschnaufpause, bevor uns eine neue Variante nun wieder in die Suppe spuckt. Rückzug und Lockdown, sollte man meinen, bieten hervorragende Bedingungen für Bücherwürmer, es gibt weniger Ablenkung und somit mehr Zeit fürs Lesen. Leider hat sich das in meinem Fall als Trugschluss herausgestellt. Die Ablenkung war immer nur einen Mausklick entfernt, und ich fand es schwerer als sonst, mich in Bücher zu versenken.

Die Titel auf dieser Liste habe ich ausgewählt, weil sie mich richtig fesseln konnten. Natürlich ist das ein höchst subjektives Kriterium und es ist durchaus möglich, sogar ziemlich wahrscheinlich, dass mir durch mein hoffentlich vorübergehendes Konzentrationsproblem richtig gute Spannungstitel entgangen sind. Aber in diesen Zeiten ist es vielleicht für uns alle wichtig, Bücher zu finden, die uns entführen und die Welt da draußen für einen kurzen Moment vergessen lassen.

Deacon King Kong, James McBride

Dieser Roman sprudelt vor Lebensfreude und war für mich die Entdeckung des Jahres. Wer Romane mit einem breiten Spannungsbogen und einer bunten Ansammlung verschiedenster Figuren mag und sich an lebendiger Fabulierkunst erfreuen kann, ist bei James McBride goldrichtig.

Brooklyn, 1969: Ein älterer Mann, im Viertel als „Sportcoat“ bekannt, hält dem 19-jährigen Drogendealer Deems Clemens eine Waffe vor die Nase und drückt ab. Sportcoat gilt zwar als Säufer, aber alle wissen, dass der Diakon der Five Ends Baptist Church keiner Fliege was zuleide tut. Umso überraschender ist diese Tat, die die Menschen im Sozialbauviertel mit vielen Fragen zurücklässt und garantiert nicht ungesühnt bleiben wird. Und so entspinnt sich ein episches Drama, in dessen Verlauf McBride eine muntere Truppe aus verschiedenen Schichten und mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten zusammenbringt, von der italienischen Mafia bis zur korrupten Polizei. Mit rasanten Wendungen und unvergesslichen Figuren ist Deacon King Kong ein witziges, bisweilen romantisches, immer emotionales und hochpolitisches Lesevergnügen. Elegant und mit großer Lust am Erzählen geschrieben. Großes Kino und eine unbedingte Empfehlung!

Blackwood, Michael Farris Smith

Mit Blackwood begeben wir aus dem Licht auf die dunkle Seite der Spannungsliteratur, genauer gesagt ins Territorium des tiefsten Southern Gothic. Wer vor finsteren menschlichen Abgründen und knallhartem Realismus keine Scheu hat, wird hier bestens unterhalten. Gänsehaut garantiert!

Eine Familie – Vater, Mutter, ein kleiner Junge – stranden in einer heruntergekommenen Kleinstadt namens Red Bluff. Die Namen dieser Menschen erfahren wir nicht, aber schnell stellt sich heraus, dass Vater und Mutter einen weiteren Sohn unterwegs auf der Straße ausgesetzt haben. Die drei sind bettelarm und völlig ausgehungert, sie leben in ihrem Auto, das schließlich den Geist aufgibt, weswegen die Reise der Familie in Red Bluff endet. Auch Red Bluff ist verarmt, die Geschäfte an der Hauptstraße stehen leer, doch es gibt eine Initiative, der heruntergekommenen Stadt neues Leben einzuhauchen. Musiker*innen, Künstler*innen und Autor*innen sind eingeladen, die leeren Läden mietfrei zu nutzen. Aus diesem Grund kehrt der Bildhauer Colbert nach vielen Jahren in seine Heimatstadt zurück, die er als kleiner Junge nach einem zutiefst traumatischen Erlebnis verlassen hatte. Sowohl die namenlose Familie als auch Colbert erregen die Aufmerksamkeit des Sheriffs. Und die Besitzerin der einzigen Bar, Celia, findet bald Interesse an Colbert, sehr zum Ärger einer ihrer Verehrer. Weder Celia noch Colbert ahnen jedoch, dass sie durch dramatische Ereignisse in ihrer Vergangenheit miteinander verbunden sind. Nach Wochen gelingt es Celia mit viel Geduld, das Vertrauen des halb verhungerten Jungen zu gewinnen. Doch nach einem Streit mit Colbert verschwindet sie spurlos. Das grausame Schicksal nimmt seinen Lauf.

Ferris Smith wählt für seine mit Horrorelementen versetzte Geschichte ein symbolisch aufgeladenes Setting: Red Bluff liegt inmitten einer fruchtbaren Landschaft, doch wer jetzt an den Garten Eden denkt, täuscht sich gewaltig. An den Hängen und in den Gärten von Red Bluff wächst und gedeiht die Koboubohne, und zwar so rasant, üppig und dicht, dass sie innerhalb kürzester Zeit alles überwuchert, ja förmlich erstickt. In diesem „Paradies“ existiert kein Erbarmen, hier gibt es keine Gnade. Blackwood ist eine Geschichte über zerbrochene Existenzen, Verzweiflung, körperliche und seelische Pein, Wahnsinn und Schuld – und entwickelt mit ihrer allegorischen Poesie einen großen Sog.

The Searcher, Tana French

Auch Tana Frenchs neuester Spannungsroman spielt in einer abgelegenen Kleinstadt und in einen vermeintlich idyllischen Setting. Es gibt weitere Ähnlichkeiten: Wie Colbert in Blackwood versucht Cal Hooper in einer Kleinstadt den Neustart. Doch da hören die Parallelen auf.

“The dark is busy around here.”

Hooper ist ein ehemaliger Cop aus Chicago. Müde von seinem Beruf und mit einer gescheiterten Ehe hinter sich, hat er sich ein verfallenes Cottage am Rande einer irischen Kleinstadt gekauft und versucht, es mit viel Zeit und Geduld in ein gemütliches Heim zu verwandeln. Doch seine Ruhe wird jäh gestört, als der dreizehnjährige Trey bei ihm auftaucht und ihn bittet, ihm bei der Suche nach seinem verschwundenen Bruder zu helfen. Weil Trey sich nicht abwimmeln lässt, gibt Cal schließlich nach und stößt dabei ziemlich schnell auf die dunkle Seite des vermeintlich idyllischen, naiv freundlichen irischen Dorflebens.

 

Dass Tana French ihr Metier beherrscht, hat sie bereits mehrfach bewiesen, auch wenn sie mich mit ihren letzten Romanen eher enttäuscht hat. The Searcher hebt sich wohltuend davon ab. Die Geschichte plätschert eine Weile ruhig vor sich hin, man erhält ausreichend Zeit, sich mit der Hauptfigur anzufreunden. Alles scheint nett und cosy, bis am Horizont die ersten Ausläufer eines Unwetters auftauchen, das sich schließlich mit voller Wucht entlädt.

Wer also damit leben kann, dass sich die Spannung hier nur langsam aufbaut, und wer Subtilität nicht als Durststrecke erlebt, ist mit diesem Roman perfekt bedient

Billy Summers, Stephen King

“A stranger came, and he turned into a neighbour, but here’s the punchline, he turned out to be a stranger all along.”

 

Der große Geschichtenerzähler Stephen King hat mit Billy Summers eine komplexe Figur geschaffen, der man sich nur langsam annähert, um ihr dann ergeben zu folgen.

Billy ist natürlich kein sympathischer Held, schließlich ermordet er Menschen gegen Bezahlung. Doch schon bald wird klar, dass die Dinge nicht schwarz oder weiß sind.´

Stephen King ist nicht nur dafür bekannt, dass er kreative Plots mit originellen, teilweise skurrilen Elementen entwickelt, er ist auch Profi darin, ausgelutschte Motive mit neuem Leben zu erfüllen. Hier nimmt er sich eines wohlbekannten Klischees an, man könnte es fast als Subgenre bezeichnen: Der Auftragskiller (Detective, Agent) und sein letzter Auftrag. King erzählt diese alte Geschichte auf seine eigene Art neu, eingängig, fesselnd und mit starken Dialogen angereichert.

Nach einem letzten Auftragsmord will sich Billy in den Ruhestand zurückziehen, also komplett abtauchen. Aber natürlich ist dieser allerletzte Job – man ahnt es – wie kein anderer. Er muss über Wochen oder sogar Monate in die Rolle eines anderen schlüpfen und sich mit seinen Nachbarn anfreunden, bevor er sein Opfer ins Fadenkreuz nehmen kann. Bis es soweit ist, soll er sich als Autor ausgeben, der von seinem Agenten ein Haus zur Verfügung gestellt bekommt, damit er dort in Ruhe ein Buch schreiben kann.

Je länger er die Rolle des freundlichen Schriftstellers verkörpert, desto unerträglicher und schäbiger empfindet es Billy, dass er seinen netten Nachbarn Lügenmärchen auftischt. Und so beschließt er, wenigstens etwas Ehrlichkeit in seine Coverstory zu bringen, und beginnt tatsächlich, ein Buch zu schreiben: Seine Lebensgeschichte.

King macht die Hauptfigur seines Romans zum Erzähler einer weiteren Geschichte. Wir erfahren nicht nur, dass Billy eine sehr traumatische Vergangenheit mit sich herumträgt, sondern erhalten auch einen Einblick in den Prozess des Schreibens selbst.

Stephen King bewegt sich durch seine Geschichte wie ein Seiltänzer, er ringt ständig ums Gleichgewicht, manchmal strauchelt er oder zittert, aber er stürzt nie ab. Seine Hauptfigur ist nicht perfekt, Billy macht Fehler, er vergisst kleine Details, und obwohl er ein echter Profi ist, ist er nicht unfehlbar.

Billy Summers ist so spannend und unterhaltsam, weil die Figuren authentisch sind, der Plot nicht geradlinig verläuft, sondern immer wieder Überraschungen parat hält. Besonders reizvoll fand ich die kleine Hommage an einen seiner unvergesslichen Klassiker und die subtilen Anklänge an das Übernatürliche.


Deacon King Kong ist unter dem deutschen Titel Der heilige King Kong bei btb erschienen, die Übersetzung stammt von Werner Löcher-Lawrence

The Searcher ist unter dem deutschen Titel Der Sucher bei S.Fischer erschienen, die Übersetzung stammt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Billy Summers ist unter dem gleichnamigen deutschen Titel bei Heyne erschienen, die Übersetzung stammt von Bernhard Kleinschmidt