Why don’t you swallow broken glass

Dieser Satz, ein abgelegenes Luxushotel, ein groß angelegter Finanzbetrug, ein Containerschiff und eine entwurzelte junge Frau bilden nur einen Teil des erzählerischen Grundgerüsts für den fünften Roman von Emily St. John Mandel mit dem evokativen Titel The Glass Hotel.

 

Vincent, eine junge Frau, arbeitet an der Bar im luxuriösen Hotel Caiette weit im Norden von Vancouver Island, das dem Roman den Titel gibt. Eines Abends versetzt die auf die großen Fenster der Lounge aufgesprühte Nachricht „Why don’t you swallow broken glass“ die wenigen illustren Gäste in Aufruhr. Vincents drogensüchtiger Bruder, der ebenfalls im Hotel arbeitet, gerät sofort unter Verdacht und verliert darüber seinen Job. Die Botschaft gilt Jonathan Alkaidis, Millionär, Investmentmanager und Besitzer des Hotels, doch der bekommt sie nie zu sehen. Stattdessen macht er an jenem Abend Bekanntschaft mit Vincent, und die beiden werden kurz darauf ein Paar.

Ihre Beziehung basiert auf einer Vereinbarung, nicht auf Liebe: Vincent wird die Vorzeigefrau an Alkaidis‘ Seite und steht ihm auf dem gesellschaftlichen Parkett wie im Schlafzimmer zur freien Verfügung. Dafür erhält sie Zugang zu ungeheurem Reichtum und einem sorgenfreien Leben. Dass sie mit dieser Entscheidung ihre Seele verkauft und so die Weichen für ihr späteres Schicksal stellt, wird erst im Verlauf des Romans deutlich. Wie eine falsche Entscheidung das ganze Leben definieren kann und wie die Alternative ausgesehen hätte, das gehört den Kernthemen dieses Romans.

Kurze, aber profunde Eindrücke aus dem Leben der Figuren, ohne Anfang, ohne Ende und ohne Auflösung, kleine Splitter ihres Universums.

Mandel erzählt ihre Geschichte nicht auf konventionelle Weise, sondern in atmosphärisch dichten Vignetten, die sich zu einer großen Geschichte zusammenfügen. Wie die fünfminütigen Videosequenzen, die Vincent immer wieder filmt, zeigt uns Mandel kurze, aber profunde Eindrücke aus dem Leben der Figuren, ohne Anfang, ohne Ende und ohne Auflösung, kleine Splitter ihres Universums.

Der Sog dieser meisterhaft erzählten Geschichte über Gier, Schuld, Ehrgeiz und Liebe ist der besonderen Sprache der Autorin geschuldet. Mit messerscharfem Blick und subtiler Beobachtungsgabe skizziert sie eine komplexe menschliche Landkarte, auf der sich Lebenswege schicksalhaft kreuzen und wieder trennen, um schließlich irgendwo wieder zusammenzufinden.

The Glass Hotel erzählt zwar von einem Verbrechen, ist aber kein klassischer Kriminalroman

Mandel’s Prosa hat einen ganz besonderen Zauber, sie ist mal sinnlich verträumt,  flirrend und geisterhaft, filigran und metaphysisch, mal realistisch, abgeklärt und gnadenlos. Dabei behält die Autorin zu jeder Zeit die Fäden in der Hand, sie spinnt ihr Netz mit beeindruckender Souveränität.

The Glass Hotel erzählt zwar von einem Verbrechen, ist aber kein klassischer Kriminalroman. Dennoch ist dieses Buch unbedingt lesenswert – auch ohne Mord und Totschlag.

© Andrea O’Brien, 2020


Weitere Titel von Emily St. Mandel
  • Last Night in Montreal (2009)
  • The Singer’s Gun (2010)
  • The Lola Quartet (2012)
  • Station Eleven (2014), deutsch von Wibke Kuhn: Das Licht der letzten Tage. Piper, München 2015

 

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Beitragsbild © Nils O’Brien (mit freundlicher Genehmigung)