William Kent Krueger, manchen Lesern als Autor der Serie um Cork O’Connor bekannt, hat mit »Ordinary Grace« (dt. »Für eine kurze Zeit waren wir glücklich«) einen atmosphärisch dichten Entwicklungsroman abgeliefert, der seine Wirkung vor allem durch poetische Sprache entfaltet.
Die Ereignisse eines Sommers
Der Roman »Ordinary Grace« des amerikanischen Autors William Kent Krueger schildert die Erinnerungen der Hauptfigur Frank Drum, der als Erwachsener die Ereignisse eines für ihn prägenden Sommers im Jahr 1961 Revue passieren lässt.
Als Frank mit seinem Bruder auf die Leiche eines Landstreichers stößt, gerät er in einen Strudel von Ereignissen, die sein Leben für immer verändern
Frank, dreizehn Jahre alt, lebt mit seinem elfjährigen Bruder Jake, seiner fast volljährigen Schwester Ariel, seinem Vater, einem Geistlichen, und seiner Mutter Ruth in einem kleinen Haus in New Bremen im Süden Minnesotas. Der Alltag der Familie erscheint ihm ritualisiert, fast schon ein wenig langweilig. Doch als er mit seinem Bruder auf die Leiche eines Landstreichers stößt, der unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, gerät er in einen Strudel von Ereignissen, die sein Leben für immer verändern .
Im Rückspiegel des Lebens
Mit Mitte fünfzig blickt Frank zurück auf tragische Geschehnisse, deren Tragweite er als Junge nur teilweise verstehen konnte. Damals erschien ihm seine Kindheit wie eine Idylle, doch als Erwachsener erkennt er die Risse in dieser vermeintlich heilen Welt: Sein kleiner Bruder Jake litt unter Sprachproblemen, er stotterte, sein Vater, der eigentlich Anwalt werden wollte, kehrte schwer traumatisiert aus dem Krieg zurück und wurde Geistlicher, was seine Frau Ruth, die glaubte, einen erfolgreichen Anwalt geheiratet zu haben, enorm frustrierte.
Vor allem ihr Dasein in der Provinz, die Engstirnigkeit ihrer Nachbarn, die nicht ausgelebte Liebesaffäre mit ihrem Seelengefährten, dem kriegsversehrten Musiker Emil Brandt und nicht zuletzt das unerschütterliche Gottvertrauen ihres Mannes machten Ruth den Alltag zur unerträglichen Falle. Dass Nathan seinem Kriegsgefährten und dem Alkohol zugeneigten Freund Gus Unterkunft gewährte, sorgte immer wieder für Konflikte. Ruth mochte sich an Gus‘ Anwesenheit stören, Frank und sein Bruder aber fanden in dem unkonventionellen Mitbewohner einen vertrauenswürdigen Ratgeber.
In dieser Geschichte der Adoleszenz trägt jede Figur seelische Wunden. Diese Menschen, manche vom Krieg gezeichnet und traumatisiert, andere getrieben von Rassismus, Homophobie, Hass, Intoleranz, Eifersucht, bevölkern das Leben des Jungen Frank, der sich zunehmend als Anker der Familie erweist. In jenem Sommer geschah viel Tragisches – aber auch ein Wunder. Auf eines verweist auch der Titel des Originals: In einer anrührenden Szene erleben wir, wie der kleine Jake ein Gebet spricht, ohne dabei ins Stottern zu geraten, und fortan problemfrei sprechen kann.
Zwei Tote, aber kein konventioneller Krimi
Obwohl zwei Todesfälle und deren Aufklärung in diesem Roman eine zentrale Rolle spielen, werden Leser, die nach herkömmlichen Motiven wie Mord, Blut, Gewalt, Sex, Folter, Entführung, Kindesmisshandlung oder Ähnlichem suchen, hier enttäuscht. Vielmehr geht es in dieser leisen, gefühlvollen und poetisch geschriebenen Geschichte um zentrale Themen rund um Leben und Tod, um Gefühle und Schicksale.
Der Erzähler und der Leser werden im Verlauf der Geschichte mit grundsätzlichen Lebensfragen konfrontiert
Wie durch ein Prisma blickt der Erzähler zurück auf seine Vergangenheit, setzt Einzelteile wie Mosaiksteinchen zusammen und betrachtet sie neu. Der Erzähler und auch der Leser werden im Verlauf der Geschichte mit grundsätzlichen Lebensfragen konfrontiert: Was ist Vergangenheit? Was ist Wahrheit? Ist unsere Erinnerung starr oder eher fließend?
Dynamik, Ort und Sprache
Packend wird der Roman vor allem dort, wo sich der Autor auf seine erzählerische Kompetenz verlässt, sein poetisches Sprachgefühl nutzt und die Fülle der erzählerischen Mittel ausschöpft
William Kent Krueger hat in diesem Roman die Zügel fest in der Hand. Der Handlungsort und die zentralen Figuren sind authentisch, dreidimensional und liebenswert, wegen oder trotz ihrer Schwächen, ohne jemals pathetisch zu wirken. Interessant und spannend ist dabei die Dynamik zwischen Nathan und Ruth, sowie zwischen Nathan und Gus, doch besonders gelungen ist die Interaktion zwischen den beiden Brüdern.
Packend wird der Roman vor allem dort, wo sich der Autor auf seine erzählerische Kompetenz verlässt, sein poetisches Sprachgefühl nutzt und die Fülle der erzählerischen Mittel ausschöpft.
Mit seinem berührend elegischen Tonfall erinnert »Ordinary Grace« an Larry Watsons Roman Montana 48, Aus der Mitte entspringt ein Fluss (A River Runs Through It) von Norman Maclean oder an den hier bereits besprochenen Coming-of-Age-Roman My Sunshine Away von M.O. Walsh.
Krimiscout meint: Unbedingt lesenswert!
Der Roman ist in der deutschen Übersetzung von Tanja Handels im Piper Verlag erschienen. Lesen Sie hier das Krimiscout–Interview mit der deutschen Übersetzerin Tanja Handels.