Sie werden in Ketten gefesselt, in Käfige gesperrt, mit Elektroschockern in Schach gehalten. In Rachel Kushners Roman »The Mars Room« ist Leben wertlos, es verendet stumm und bleibt als toter Fleischhaufen zurück.
Dieses Buch handelt allerdings nicht von Tierquälerei. Es ist auch keine düstere, misogyne Dystopie, die Margaret Atwoods schlimmstem Alptraum den Rang ablaufen könnte, sondern schildert das, was für viele amerikanische Frauen Alltag ist: ein Leben im Gefängnis.
Romy Hall heißt die trotz ihres Namens wenig glamouröse, zu Beginn der Geschichte neunundzwanzigjährige Hauptfigur in Kushners Roman. Sie sitzt im Frauengefängnis von Stanville in Kalifornien ein. Zweimal lebenslänglich und noch ein paar Jahre obendrauf muss sie verbüßen, weil sie ihren Stalker erschlagen hat. Sie wuchs bei einer tablettensüchtigen, lieblosen Mutter auf, wurde mit 11 Jahren vergewaltigt, nahm früh Drogen und landete schließlich als Stripperin in einem herunterkommenden Nachtclub: The Mars Room. Mit dieser Arbeit hielt sie sich über Wasser, schaffte es gerade so, sich und ihren kleinen Sohn Jackson durchzubringen.
Romy erzählt ihre Geschichte selbst, allerdings nicht linear. Die Eingangsszene zeigt sie bei einem nächtlichen Gefängnistransport, zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits einen großen Teil ihrer Haftstrafe abgesessen. Immer wieder gibt es Zeitsprünge, wir erhalten kurze Einblicke in ihr Leben „davor“. Hall ist in San Francisco aufgewachsen, eine Stadt, die mit dem, was wir aus Film und Medien kennen, wenig gemein hat. Ihre Kindheit und Jugend kann mit wenig Positivem aufwarten, ihr Abstieg scheint vorprogrammiert. Dennoch gelingt es der jungen Frau, eine gewisse Routine in ihr Leben zu bringen, sie verdingt sich zwar als Sexarbeiterin, kümmert sich aber so gut es geht um ihren Sohn, bietet ihm Halt und ein Heim. Umso bitterer ist es, dass Romy mit der Haftstrafe automatisch das Sorgerecht für Jackson verliert und nach dem Tod ihrer Mutter, die sich eine Zeitlang um den Jungen gekümmert hatte, für immer von ihrem Sohn getrennt wird.
Im Alltag dieser Frauen finden Geburten auf nackten Betonboden statt, die Gebärende wird blutend und vor Schmerzen schreiend allein gelassen und am Ende wird ihr der Säugling brutal entrissen. Das ist schwer zu ertragen.
Kushner hat selbst in Gefängnissen recherchiert und verarbeitet in diesem Buch viele ihrer Eindrücke. So erfahren wir, wie Insassen Sandwiches durch Klorohre schmuggeln, Fusel in Socken brauen oder wie sie die Pflichteinnahme von Medikamenten mithilfe von Erdnussbutter unterlaufen. Doch vor allem die dunkle Seite, mit ihrer Unmenschlichkeit so schockierend wie abstoßend, hinterlässt Spuren. Im Alltag dieser Frauen finden Geburten auf nacktem Betonboden statt, die Gebärende wird blutend und vor Schmerzen schreiend allein gelassen und am Ende wird ihr der Säugling brutal entrissen. Das ist schwer zu ertragen.
Gelegentlich wird die düstere Grundstimmung aber etwas aufgelockert, beispielsweise, wenn sich die Frauen in den Todeszellen durch die Rohrleitungen unterhalten oder Conan, eine Frau, die so überzeugend männlich aussieht und tickt, dass man sie zunächst in den Männerknast eingeliefert hatte, im Werkunterricht Dildos schnitzt. Doch sogar diesen heiteren Episoden haftet die Verzweiflung an, werden sie doch von der Ich-Erzählerin mit demselben emotionslosen Ton wiedergegeben wie diese anderen Szenen, die von Gewalt, Grausamkeit und völliger Aussichtslosigkeit erzählen .
Geht es (mal wieder) um gut und böse? Recht und Unrecht? Ist Kushners Roman eine Variation von Orange is the New Black? Hinter Gittern? Die Antwort ist klar wie ein Todesurteil: Nein. Stattdessen wirft die Autorin einen nüchternen, schonungslosen Blick darauf, was es heißt, in Amerika arm und weiblich zu sein. Sie rechnet ab mit dem amerikanischen Traum, der für viele zum Alptraum mutiert ist. In Kushners Amerika ist kein Mensch frei, seinen Weg zu gehen, und alle sind schuldig geworden. Kalifornien ist ein grauenvoller Ort, seine endlosen, menschenleeren Felder werden von Maschinen bestellt, und in den Städten herrscht Einsamkeit, Drogensucht und Armut.
Doch wie kann daraus eine Geschichte entstehen? Wie soll sich eine Handlung entwickeln, wenn doch zu allen Seiten Mauern, Wachtürme und Sicherheitszäune aufragen? Tatsächlich ist Kushners Welt eng und paranoid, immer lebensgefährlich und meist unerträglich. Aber sie ist bevölkert. Die Autorin lässt ihre Figuren atmen, fühlen, lachen, leiden, ertragen, sterben – und sie gibt jeder einzelnen eine eigene Stimme. Wo es am dunkelsten ist, erleben wir sie in ihrer ganzen Fülle.
Warnung: Dieser Roman macht nicht glücklich. Er irritiert und schlägt Wunden. Kushners Prosa ist scharf wie Stacheldraht, ihre Botschaft aufgeladen wie ein elektrischer Zaun. Und damit hinterlässt sie Spuren. Garantiert.
© Andrea O’Brien, 2018
Bildrechte
Beitragsbild: ©Nils O’Brien, mit freundlicher Genehmigung