Ein Fluss namens »Long Man« und eine Mutter im aussichtlosen Kampf gegen die Zeit stehen im Zentrum dieses zweiten Romans von Amy Greene.

Auf wahren Tatsachen

Long Man (übersetzt aus der Sprache der indigenen Bevölkerung) fließt seit Urzeiten durch East Tennessee, hat seine Ufern fruchtbar gemacht und den Menschen seit jeher als Transportweg für ihre Waren gedient. In den 1930ern lebten die Einwohner im Herzen Appalachias noch weitgehend ohne Strom. Die Tennessee Valley Authority machte es sich daher zur Aufgabe, diesen Zustand zu ändern, und beschloss, den Fluss aufzustauen, um die Region zu modernisieren und allen bessere Lebensbedingungen zu bieten.

»Niemand kann sich allein gegen die Regierung auflehnen«

(Amy Greene, Long Man) 

Doch das Vorhaben stieß nicht nur auf Begeisterung. Es gab auch solche, die sich weigerten, ihr Land zu verkaufen und standhaft in ihren Dörfern blieben, selbst als das Wasser bereits anstieg. Das umstrittene Projekt der T.V.A., das einige als längst fälligen Aufbruch in eine modernere Zukunft betrachteten, wurden von vielen Einheimischen als ultimativer Verlust erlebt, eine Entwurzelung und Zerstörung ihrer Traditionen.

Amy Greene verwendet diesen historisch belegten Ausschnitt aus der Geschichte Appalachias als Dreh- und Angelpunkt für ihren Roman. Die Autorin ist fest mit ihrer Heimat verwurzelt, kennt die Menschen dort und erzählt ihre Geschichte mit tief empfundener Empathie. Ihr Roman umfasst einen Zeitraum von drei Tagen im Sommer 1936. Die meisten Bewohner des Dorfes Yuneetah in Tennessee haben bereits Haus und Hof verlassen und sind in der Hoffnung auf Arbeit in den Fabriken nach Detroit, Chicago oder Cincinnati gezogen. „Niemand kann sich allein gegen die Regierung auflehnen“ – diese Empfindung wird von vielen geteilt.

Das Wasser steigt

Annie Clyde Dodson ist eine der wenigen, die diesen Aufstand dennoch proben. Sie weigert sich, ihr Land zu verlassen und ihre Familie zu entwurzeln. Haus, Hof und Grundstück betrachtet sie als Vermächtnis an ihre Tochter Gracie, sie kann und will sich nicht damit abfinden, dass die Zukunft ihres Kindes nun einfach zerstört werden soll. Von Minute zu Minute steigt das Wasser, Stunde um Stunde überschwemmt es vertraute Landstriche und schwappt an die Grenzen des  Dorfes, in dem niemand elektrisches Licht hat.

Ein Kind verschwindet

Die Handlung dieses Romans ist so einfach wie spannend. Es bleiben nur noch wenige Stunden, bis zur kompletten Überflutung des Dorfes. Annie Clydes Mann James versucht verzweifelt, seine Frau zum Aufgeben und endgültigen Umzug nach Detroit zu bewegen. Mitten im Streit stellt das Paar fest, dass das dreijährige Töchterchen Gracie und ihr Hund verschwunden sind. Sofort verdächtigt Annie den einäugigen Landstreicher Amos, der nach fünf Jahren plötzlich wieder in der Gegend aufgetaucht ist und den sie noch Stunden zuvor von ihrem Grundstück verscheucht hat. Er soll das Kind entführt haben.

Während die wenigen, noch am Ort gebliebenen Einwohner eine panische Suche nach Amos und Gracie starten, kochen lange gehegte Animositäten hoch. Amos ist der Adoptivsohn der alten Knochenleserin und Wahrsagerin Beulah, die in den Hügeln über dem Dorf wohnt. Sie beschützt ihn, trotz seiner Schwächen. Amos hingegen hat ganz andere Pläne.

»Er hatte keine Ideologie. Er hatte keine festen Überzeugungen. Nur eine tiefe Abneigung gegen die Männer, die das Sagen hatten.«

(Amy Greene, Long Man)

Ein Katalog für die Ewigkeit

Die wenigen Figuren in dieser Geschichte treffen auf dem Höhepunkt mit Wucht aufeinander, doch die Schnittmenge aus zentralen Elementen ihrer Vorgeschichte schafft eine tiefer liegende Verbindung. Dank Greene erhalten sie alle Tiefgang und starke Konturen. Ähnlich eindrucksvoll ist ihre Beschreibung der unwiderruflich zerstörten Gegend im Herzen Appalachias. Sie gleicht einem liebevoll zusammengestellten Katalog, den sie für Ewigkeit erhalten möchte. Dieser mit lyrischer Zartheit und kraftvoller Eindringlichkeit verfasste Roman enthält alles, was eine Geschichte spannend macht, und liest sich wie eine Ballade über Gemeinschaft, Wurzeln, Tradition und Moderne, Liebe und Verlust.

»Yuneetah würde sterben, doch seine Einwohner, die das Dorf auf dieser Straße verließen, würden sicher einen Teil davon in ihre neue Heimat mitnehmen. Auch den Fluss würden sie mitnehmen, sein Wasser, das sie in Gläsern davontrugen, um es in ihre Heizungen zu gießen oder ihre trockenen Kehlen damit zu befeuchten. Das elektrische Licht der ganzen Welt konnte sie nicht so verblenden, dass sie je vergessen würden, was sie mitgebracht hatten, das Erbe, das sie an ihre Kinder weitergeben werden (…). Egal, wo sie sich niederließen, Long Man würde auf ewig durch ihre Träume rauschen« (Amy Greene, Long Man)

»Long Man« ist die Chronik einer Tragödie, die dank des eindrucksvollen Talents der Autorin nie theatralisch, überzeichnet oder klischeehaft wirkt. Das Schicksal und Ende von Yuneetah ist historisch belegt, doch Amy Greene hat dem Dorf und seinen Einwohnern ein unvergessliches Denkmal gesetzt.

Die Autorin

Amy Greene wurde in den Ausläufern der Smoky Mountains geboren, wo sie  auch heute noch mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt. Ihr zweiter Roman Long Man erschien im Februar 2014  bei Alfred A. Knopf.

© Andrea O’Brien 2018

Buchinfo

Titel: Long Man
Verlag und Erscheinungsjahr: Knopf, 2014
Seitenzahl: 288

Weiterführende Informationen:

Amy Greenes Website


Ein exklusives Interview mit der Autorin lesen Sie hier