Belinda Bauer mag schräge Figuren. Nicht alle mögen Belinda Bauer. Doch ihr neuester Roman »Snap« schaffte es auf die Longlist für den Booker Prize. Warum? Krimiscout ermittelt.

Eine Autorin und ihre heimlichen Helden

Die Autorin Belinda Bauer ist kein Neuling in der Spannungsszene und auch auf dem deutschen Markt mit Romanen wie »Totenkind«, »Mädchenbeute«, »Der Tod so nah« (Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger) vertreten. Krimiscout hat sich Bauers neuesten Roman »Snap« vorgenommen, weil noch gar nicht feststeht, ob und wann er überhaupt in Deutschland erscheint.

Bauer bevölkert ihre Geschichten ausnahmslos mit ganz normalen Menschen, die in abwegigen Situationen zu schrägen Helden mutieren

Wer Belinda Bauer bereits kennt, weiß, dass ihre Romane zwar als Psychothriller firmieren, aber vom konventionellen Schema des psychologischen Thrillers abweichen, denn ihre Plots sind komplexer, ihre Erzählweise unterwirft sich nicht dem Dogma des rasant vorangetriebenen Spannungsaufbaus, und sie bevölkert ihre Geschichten ausnahmslos mit ganz normalen Menschen, die in abwegigen Situationen zu schrägen Helden mutieren. Und damit meine ich nicht nur die Verbrecher oder Opfer, sondern auch die Ermittler.

Allein, wir haben es bei Bauer immer mit schrecklichen Verbrechen zu tun. Wer ihre Romane liest, darf nicht zu zartfühlig sein. Da geht es um tote Kinder, Gewalt, tragische Zufälle oder, wie in »Snap«, um den Mord an einer hochschwangeren Mutter (basierend auf einem wahren Fall, dem bis heute ungeklärten Mord an Marie Wilks) und das Schicksal ihrer drei Kinder. Diese müssen sich fortan allein durchschlagen, weil ihr Vater am gewaltsamen Tod seiner Frau zerbricht und einfach verschwindet. Und damit wären wir beim dritten Merkmal, das alle Romane von Belinda Bauer auszeichnet: Kinder sind ihre heimlichen Helden.

Ein Einbrecher namens Goldilocks

»Snap« erzählt eine düstere, atmosphärische Geschichte, die bisweilen Züge eines bösen Märchens trägt. Da gibt es einen Serieneinbrecher namens Goldilocks, in Wahrheit ein kleiner Junge, der von einem schrecklichen Erlebnis so traumatisiert ist, dass es immer wieder in Häuser einsteigt, um sich ein paar Momente in die heile Welt der dort wohnenden Familien hineinzuträumen. Er schläft in den Betten der Kinder und stiehlt, was er für seine Geschwister braucht.

Doch zurück an den Anfang der Handlung, die im Sommer 1998 einsetzt. Die hochschwangere Eileen Bright lässt ihre drei Kinder im Wagen zurück, um einen Pannennotdienst zu rufen. Der elfjährige Jack und seine jüngeren Schwestern Joy und Merry warten mehrere Stunden in der Hitze, bis Jack schließlich beschließt, zusammen mit seinen Schwestern nach der Mutter zu suchen. Erst nach mehreren Stunden hält endlich jemand an, um den Kindern zu helfen. Tage später stellt sich heraus, dass Eileen Bright nie den Notdienst gerufen hat. Ihre Leiche wird ein paar Kilometer von der Notrufsäule entfernt am Straßenrand gefunden.

Belinda Bauer mag ihre Underdogs. Und ihre Figuren sind alles andere als berechenbar

Drei Jahre später: Das Verbrechen an Eileen Bright hat die Familie zerstört. Der Vater verschwindet und lässt die drei Kinder allein im Haus zurück. Doch der mittlerweile vierzehnjährige Jack übernimmt die Verantwortung. Um zu verhindern, dass er und seine Geschwister vom Jugendamt getrennt werden, setzt er alles daran, die Fassade einer funktionierenden Familie aufrecht zu erhalten. Um für den Lebensunterhalt zu sorgen, bricht er in Häuser ein und stiehlt, was er zu Geld machen kann. Unterstützung erhält er dabei von seinem Hehler, Mentor und besten Freund Louis – eine schräge, ambivalente Figur, wie sie in Belinda Bauers Romanen häufig vorkommen.

Ein Haus voller Zeitungen und ein Messer neben dem Bett

Jack schafft es zwar, »seine« Familie mit Einbrüchen über Wasser zu halten, doch das schwere Trauma und die Verlustängste seiner Schwestern kann er nicht heilen. Während die kleine Merry sich obsessiv in Fantasiewelten flüchtet, sammelt Joy wie ein Messie Zeitungen mit Artikeln über den Mordfall, weil sie so an ihrer Mutter festzuhalten glaubt. Diese prekäre Situation gerät außer Kontrolle, als Jack bei einem Einbruch erwischt wird.

Um dieselbe Zeit findet die hochschwangere Catherine While ein Messer neben ihren Bett und dazu einen Zettel mit der Aufschrift: »Ich hätte dich umbringen können« Doch statt den Vorfall zu melden, beschließt die junge Frau, die Sache für sich zu behalten. Schließlich hat ihre Mutter ihr schon als kleines Mädchen beigebracht, dass sie wegen »Kleinigkeiten« kein »Theater« machen soll. Und weil sie vergessen hat, die Haustür abzuschließen, will sie auch ihrem Mann lieber nichts vom Einbruch erzählen. Ein gefährlicher Fehler, wie sich bald herausstellen soll.

Leser, die allerdings aufgrund dieser Eingangsszene erwarten, dass While sich im Verlauf der Geschichte wie eine dümmliche Schwangere oder ein Frauchen in der Opferrolle verhalten wird, sind ist bei Belinda Bauer an der falschen Adresse. Denn Bauer mag ihre Underdogs. Und ihre Figuren sind alles andere als berechenbar.

Erzählstränge und Zeitebenen geschickt verknüpft

Mehrere Plotstränge, Zeitebenen und Erzählperspektiven machen »Snap« zu einem komplexen Roman, der sich gut liest, weil die Autorin ihren Stoff und das Erzähltempo fest im Griff hat. Sicher gibt es Leserstimmen, die sich über Längen beklagen, doch dabei gilt es zu bedenken, dass Bauer keine ist, die mit rasanten Szenen Spannung aufbaut.

Diese Autorin schleicht sich leise an, belauert ihre Figuren und schlägt dann blitzschnell zu

Die Autorin schleicht sich leise an, belauert ihre Figuren und schlägt dann blitzschnell zu. Geduldige LeserInnen werden belohnt: Die Auflösung dieses geschickt geplotteten, mit knapper Spreche erzählten und doch sehr emotionalen Romans ist gut gelungen und lässt das Herz des anspruchsvollen Spannungsfans höher schlagen.

Ohne Tricks und unglaubwürdige Wendungen

Bauer kommt bei dieser Geschichte ohne Tricks und technische Spielereien aus, was besonders sympathisch ist in einen Markt, in dem Thriller mit überkonstruierten Plots und möglichst vielen unerwarteten Wendungen Hochkonjunktur haben. Sie verlässt sich indessen auf die Kraft des Erzählens und vor allem auf ihre Figuren. Und die sind unvergesslich.

Eine klare Leseempfehlung!


Achtung: Das Interview mit der Autorin Belinda Bauer lesen Sie in Kürze hier beim Krimiscout.


(c) Andrea O’Brien, 2018